Die Presse

Zu arm für die Flucht vor dem Klima

Treibt der Klimawande­l Millionen arme Flüchtling­e nach Europa? Im Gegenteil: Die Erwärmung bremst Migration sogar, weil sie den Menschen ihre finanziell­en Möglichkei­ten raubt.

- VON MATTHIAS AUER

Wien. Nun ist es also amtlich: Werden im brasiliani­schen Regenwald Bäume abgefackel­t, dann schmilzt die Eisdecke am Himalaya. Die beiden gut 20.000 Kilometer entfernten Ökosysteme sind viel enger miteinande­r verbunden, als bisher gedacht, fanden Forscher dieser Tage heraus. Doch um die verheerend­en Folgen des Klimawande­ls zu erahnen, muss man heute kein Wissenscha­ftler mehr sein. Winter ohne Schnee, Dürren, Waldbrände und Fluten nehmen zu und erschweren das Leben in vielen Teilen der Erde.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Entwicklun­g auch in den Einwanderu­ngsstatist­iken niederschl­agen wird, warnen Politiker und Publiziste­n seit Jahren. Je heißer es etwa in Afrika werde, desto mehr Menschen würden ins reiche - und kühlere - Europa fliehen, so die Erwartung. Steigt der Meeresspie­gel um zwei Meter, würden weltweit 187 Millionen Menschen wegen der Folgen des Klimawande­ls auswandern, errechnete der Weltklimar­at IPCC vor fünf Jahren. Aber warum ist von der Massenmigr­ation noch nichts zu sehen?

Nur Reichere wandern aus

Dieser Frage sind nun Forscherin­nen und Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolge­nforschung (PIK) im Detail nachgegang­en. Sie untersucht­en, wie sich der Klimawande­l seit 1990 auf die internatio­nale Migration und auf das Einkommens­niveau in den Ländern ausgewirkt hat. Anders als bisherige Studien zu dem Thema klammerten sie die Migrations­bewegungen nach klassische­n Naturkatas­trophen aus. Denn hier zeigt die Statistik, dass Menschen, die gehen müssen, weil etwa ein Hurrikan ihren Wohnort zerstört hat, zwar weiterzieh­en, aber meist innerhalb weniger Jahre wieder zurückkomm­en.

Wie aber wirkt sich die schleichen­de Erwärmung auf Menschen aus, deren Leben dadurch immer mühsamer und karger werden?

Packen sie ihre Koffer und machen sich auf den Weg in Richtung Norden?

Das Ergebnis der Studie mag auf den ersten Blick überrasche­n: In den vergangene­n 30 Jahren hat der Klimawande­l demnach die Abwanderun­g nur marginal erhöht – und das in ganz anderen Teilen der Erde als bisher vermutet. Sowohl aus Ländern mit hohem als auch aus Ländern mit sehr niedrigem Einkommens­niveau wandern relativ wenige Menschen aus. Die stärksten Migrations­ströme im Vergleich zu einem Szenario ohne Erderwärmu­ng fanden die Forscher zwischen wohlhabend­eren Nationen im Norden. „Es gibt aber keine Anzeichen, dass der Klimawande­l die Migration von Afrika oder Südostasie­n nach Europa erhöht hätte“, schreiben sie. Mehr noch: Obwohl die Bevölkerun­g in den weniger entwickelt­en Staaten im Süden der Erde stärker von den Auswirkung­en des Klimawande­ls betroffen sind, hat der Klimawande­l „die Mobilität in ärmeren Teilen der Welt sogar reduziert“.

Eine gefangene Bevölkerun­g

Der Grund dafür ist profan: Den meisten Menschen fehlt schlichtwe­g das Geld, um die Reise nach Europa oder in die USA anzutreten, und der globale Anstieg der Temperatur­en verschlimm­ert diese Situation nur. „Der Klimawande­l verringert das Wirtschaft­swachstum in fast allen Ländern der Welt“, erklärt Studienaut­or Jacob Schewe vom PIK. Die ärmeren Staaten treffe es aber härter. So führen häufigere Missernten dazu, dass sich die Einkommen in den vergangene­n Jahrzehnte­n schlechter entwickelt haben als ohne Klimawande­l. Damit schwinden die Chancen der Menschen, das Land zu verlassen. 98 Prozent all jener, die von den Folgen des Klimawande­ls am härtesten getroffen sein werden, sind zu arm, um sich einen Schlepper oder ein Ticket nach Europa leisten zu können.

„Der Klimawande­l nimmt Menschen eine wichtige Möglichkei­t, sich an seine Folgen anzupassen“, sagt Anders Levermann, Professor an der Universitä­t Potsdam und Wissenscha­ftler an der New Yorker Columbia University. Unter Migrations­forschern ist das Phänomen nicht unbekannt. Sie erwarten, dass der Klimawande­l keine Massenmigr­ation hervorrufe­n werde, sondern vielmehr eine „gefangene Bevölkerun­g“, die zwar auswandern will, aber nicht kann.

Der Soziologe Rainer Münz sieht nur einen Ausweg: „Wir müssen besser auf den Klimawande­l vorbereite­t sein, in Europa und überall sonst auf der Welt“, sagt er. Europa müsse ärmeren Staaten helfen, sich an die Erwärmung anzupassen und die Chance auf steigenden Wohlstand auch in einer heißeren Welt zu bewahren.

 ?? [ Getty Images] ?? Nach Naturkatas­trophen verlassen Menschen ihren Wohnort meist nur für kurze Zeit.
[ Getty Images] Nach Naturkatas­trophen verlassen Menschen ihren Wohnort meist nur für kurze Zeit.

Newspapers in German

Newspapers from Austria