Zu arm für die Flucht vor dem Klima
Treibt der Klimawandel Millionen arme Flüchtlinge nach Europa? Im Gegenteil: Die Erwärmung bremst Migration sogar, weil sie den Menschen ihre finanziellen Möglichkeiten raubt.
Wien. Nun ist es also amtlich: Werden im brasilianischen Regenwald Bäume abgefackelt, dann schmilzt die Eisdecke am Himalaya. Die beiden gut 20.000 Kilometer entfernten Ökosysteme sind viel enger miteinander verbunden, als bisher gedacht, fanden Forscher dieser Tage heraus. Doch um die verheerenden Folgen des Klimawandels zu erahnen, muss man heute kein Wissenschaftler mehr sein. Winter ohne Schnee, Dürren, Waldbrände und Fluten nehmen zu und erschweren das Leben in vielen Teilen der Erde.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Entwicklung auch in den Einwanderungsstatistiken niederschlagen wird, warnen Politiker und Publizisten seit Jahren. Je heißer es etwa in Afrika werde, desto mehr Menschen würden ins reiche - und kühlere - Europa fliehen, so die Erwartung. Steigt der Meeresspiegel um zwei Meter, würden weltweit 187 Millionen Menschen wegen der Folgen des Klimawandels auswandern, errechnete der Weltklimarat IPCC vor fünf Jahren. Aber warum ist von der Massenmigration noch nichts zu sehen?
Nur Reichere wandern aus
Dieser Frage sind nun Forscherinnen und Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) im Detail nachgegangen. Sie untersuchten, wie sich der Klimawandel seit 1990 auf die internationale Migration und auf das Einkommensniveau in den Ländern ausgewirkt hat. Anders als bisherige Studien zu dem Thema klammerten sie die Migrationsbewegungen nach klassischen Naturkatastrophen aus. Denn hier zeigt die Statistik, dass Menschen, die gehen müssen, weil etwa ein Hurrikan ihren Wohnort zerstört hat, zwar weiterziehen, aber meist innerhalb weniger Jahre wieder zurückkommen.
Wie aber wirkt sich die schleichende Erwärmung auf Menschen aus, deren Leben dadurch immer mühsamer und karger werden?
Packen sie ihre Koffer und machen sich auf den Weg in Richtung Norden?
Das Ergebnis der Studie mag auf den ersten Blick überraschen: In den vergangenen 30 Jahren hat der Klimawandel demnach die Abwanderung nur marginal erhöht – und das in ganz anderen Teilen der Erde als bisher vermutet. Sowohl aus Ländern mit hohem als auch aus Ländern mit sehr niedrigem Einkommensniveau wandern relativ wenige Menschen aus. Die stärksten Migrationsströme im Vergleich zu einem Szenario ohne Erderwärmung fanden die Forscher zwischen wohlhabenderen Nationen im Norden. „Es gibt aber keine Anzeichen, dass der Klimawandel die Migration von Afrika oder Südostasien nach Europa erhöht hätte“, schreiben sie. Mehr noch: Obwohl die Bevölkerung in den weniger entwickelten Staaten im Süden der Erde stärker von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, hat der Klimawandel „die Mobilität in ärmeren Teilen der Welt sogar reduziert“.
Eine gefangene Bevölkerung
Der Grund dafür ist profan: Den meisten Menschen fehlt schlichtweg das Geld, um die Reise nach Europa oder in die USA anzutreten, und der globale Anstieg der Temperaturen verschlimmert diese Situation nur. „Der Klimawandel verringert das Wirtschaftswachstum in fast allen Ländern der Welt“, erklärt Studienautor Jacob Schewe vom PIK. Die ärmeren Staaten treffe es aber härter. So führen häufigere Missernten dazu, dass sich die Einkommen in den vergangenen Jahrzehnten schlechter entwickelt haben als ohne Klimawandel. Damit schwinden die Chancen der Menschen, das Land zu verlassen. 98 Prozent all jener, die von den Folgen des Klimawandels am härtesten getroffen sein werden, sind zu arm, um sich einen Schlepper oder ein Ticket nach Europa leisten zu können.
„Der Klimawandel nimmt Menschen eine wichtige Möglichkeit, sich an seine Folgen anzupassen“, sagt Anders Levermann, Professor an der Universität Potsdam und Wissenschaftler an der New Yorker Columbia University. Unter Migrationsforschern ist das Phänomen nicht unbekannt. Sie erwarten, dass der Klimawandel keine Massenmigration hervorrufen werde, sondern vielmehr eine „gefangene Bevölkerung“, die zwar auswandern will, aber nicht kann.
Der Soziologe Rainer Münz sieht nur einen Ausweg: „Wir müssen besser auf den Klimawandel vorbereitet sein, in Europa und überall sonst auf der Welt“, sagt er. Europa müsse ärmeren Staaten helfen, sich an die Erwärmung anzupassen und die Chance auf steigenden Wohlstand auch in einer heißeren Welt zu bewahren.