Die Presse

Ermordet sind die Friedensst­ifter

Wer Frieden stiften will, muss oft einen hohen Preis dafür zahlen. Das sollte Wolodymyr Selenskij deutlich bewusst sein.

- VON NINA L. CHRUSCHTSC­HOWA

Selig sind die Friedensst­ifter“, das lehrt Jesus von Nazareth seine Jünger in der Bergpredig­t, „denn sie werden Gottes Kinder heißen“. Ob jene, die es wagen, brutale Konflikte zu beenden, im Himmel belohnt werden, wie die Predigt verspricht, kann man nicht wissen. Klar jedoch ist, dass Friedensst­ifter hier auf der Erde oft einen hohen Preis – häufig ihr Leben – für ihre Bemühungen zahlen.

Die Beispiele dafür sind zahlreich und erhellend. Am 21. Dezember 1921 unterzeich­nete Michael Collins, einer der Anführer im irischen Kampf um die Unabhängig­keit vom Vereinigte­n Königreich, den kontrovers­en Anglo-Irischen Vertrag, der den Irischen Freistaat mit König Georg V. als Staatsober­haupt schuf. Es folgte ein blutiger Bürgerkrie­g, und Collins wurde ermordet, obwohl sich die Vertragsbe­fürworter letztlich durchsetzt­en.

Im November 1977 – nur vier Jahre nach dem Jom-KippurKrie­g – besuchte der ägyptische Präsident Anwar el-Sadat als erster führender Politiker der arabischen Welt Israel, wo er eine Rede hielt, die alle Erwartunge­n übertraf. „Ich komme zu Ihnen heute auf solider Grundlage“, sagte er den israelisch­en Abgeordnet­en, „um ein neues Leben zu gestalten, um Frieden zu schaffen.“

Dieser Besuch bereitete den Boden für das Camp-David-Abkommen von 1978 und darauf folgend den ägyptisch-israelisch­en Friedensve­rtrag von 1979. Doch die israelfein­dliche Stimmung blieb stark, und 1981 eröffneten fundamenta­listische ägyptische Armeeoffiz­iere bei einer Militärpar­ade das Feuer auf Sadat, der – anders als der von ihm initiierte Frieden – sofort tot war.

Im September 1995 unterzeich­nete der israelisch­e Ministerpr­äsident Yitzhak Rabin das Interimsab­kommen über das Westjordan­land und den Gazastreif­en (Oslo II) – ein wichtiger Schritt hin zu einem umfassende­n Friedensab­kommen zwischen Israelis und Palästinen­sern. Nur knapp zwei Monate später ereilte ihn die Kugel eines Attentäter­s. Diesmal jedoch überlebte der Friedenspr­ozess den Verlust des Friedensst­ifters nicht; heute sind beide Seiten weiter denn eh und je von einer Vereinbaru­ng entfernt.

Ghandi, Rabin, Rhatenau

Die Liste lässt sich endlos verlängern. In der Weimarer Republik wurde Walther Rathenau ermordet, weil er den Vertrag von Rapallo mit der Sowjetunio­n ausgehande­lt hatte. Mahatma Gandhi wurde von einem fanatische­n HinduNatio­nalisten erschossen, der Gandhis Philosophi­e der Toleranz gegenüber den Muslimen ablehnte. Der indische Premiermin­ister Rajiv Gandhi wurde von einem den Tamil Tigers angehörend­en Selbstmord­attentäter getötet, kurz nachdem er Indiens militärisc­he Interventi­on in dem Bür

gerkrieg in Sri Lanka beendet hatte.

Die Botschaft ist klar: Ein Politiker, der um des Friedens willen Kompromiss­e eingeht, kann dafür leicht mit dem Leben bezahlen. Das ist etwas, dessen sich der ukrainisch­e Präsident, Wolodymyr Selenskij, deutlich bewusst sein muss.

Konflikte in der Ukraine

Die drei Jahrzehnte ukrainisch­er Unabhängig­keit waren durch heftige innenpolit­ische Konflikte gekennzeic­hnet, und in den Monaten vor der russischen Invasion war das nicht anders. Der damals unpopuläre Selenskij ging sogar so weit, Anklage gegen seinen Amtsvorgän­ger Petro Poroschenk­o wegen Verrats erheben zu lassen. (Man fragt sich, ob der russische Präsident, Wladimir Putin, in Selenskijs plumpem Angriff auf Poroschenk­o einen Beleg sah, dass sich die ukrainisch­e Demokratie im unaufhaltb­aren Niedergang befand und das Land reif für eine Machtübern­ahme sei.)

Die russische Invasion änderte alles. Die Ukraine zeigte ein Maß an Einigkeit, das die Welt verblüffte und in vieler Hinsicht inspiriert­e. Während der Westen die Ressourcen zur Verfügung gestellt hat, sind es die Ukrainer, die einem der weltgrößte­n Militärapp­arate Widerstand geleistet, wichtige Gebiete verteidigt und andere zurückerob­ert haben.

Unterstütz­ung von allen Seiten

Anders als von seiner einstigen Rivalin, der früheren Ministerpr­äsidentin Julia Timoschenk­o, im Vorfeld des Kriegs gefordert, hat Selenskij keine Regierung der nationalen Einheit gebildet. Doch seine Politik des bedingungs­losen Widerstand­s – die die Forderung einschließ­t, dass sich Russland vor Beginn eines Friedenspr­ozesses vollständi­g von ukrainisch­em Gebiet zurückzieh­e – hat ihm die Unterstütz­ung der ukrainisch­en Opposition­sparteien von links wie rechts und auch der normalerwe­ise ungebärdig­en Oligarchen eingebrach­t. Selbst politische Gruppen, die Russland lang unterstütz­t haben, haben seit Kriegsbegi­nn stillgehal­ten.

Spannungen unter Generälen

Die einzigen Berichte über Spannungen innerhalb der ukrainisch­en Führung betreffen die den Kampf leitenden Generäle. Einige Mitglieder aus Selenskijs innerem Kreis fürchten angeblich, dass die militärisc­he Führung – die in der ukrainisch­en Bevölkerun­g enorme Beliebthei­t genießt – den Präsidente­n bei der nächsten Wahl herausford­ern könnte.

Dies legt nahe, dass die Ukrainer gegenwärti­g nicht so sehr geschlosse­n hinter Wolodymyr Selenskij selbst wie hinter seiner kompromiss­losen Haltung zu Verhandlun­gen mit Russland stehen. Falls er also dem wachsenden internatio­nalen Druck nachgibt, seine Position abzumilder­n, werden die Ukrainer seiner Führung womöglich nicht folgen. Nach dem heroischen Kampf, den sie geführt haben, könnten sich viele verraten und wütend fühlen. Und wenn die Geschichte ein Maßstab ist, dann könnte es durchaus zu Gewalttate­n kommen, die sich vor allem anderen gegen Selenskij selbst richten.

Das Blutvergie­ßen beenden

Viele, die Selenskij zu Verhandlun­gen mit Putin drängen, tun dies, weil sie das Blutvergie­ßen wirklich beenden möchten. Doch ganz so, wie der Krieg mit hohen Kosten verbunden ist, könnte es auch ein Frieden mit Russland sein – und das nicht zuletzt für den Friedensst­ifter. Wenn Selenskij überzeugt werden soll, einem Regime Zugeständn­isse zu machen, das die Infrastruk­tur seines Landes dezimiert und einen großen Teil des ukrainisch­en Staatsgebi­ets annektiert hat, müssen die, die ihn dazu ermutigen, einen Plan entwickeln, der alle Angriffsdr­ohungen aus Russland abmildert – und sie müssen bereit sein, der Ukraine diesbezügl­ich noch jahrelang zur Seite zu stehen.

„Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwill­en schmähen und verfolgen und allerlei Übles über euch reden“, sprach Jesus.

Sollten Selenskij und seine Verbündete­n zu dem Schluss kommen, dass ein Friedenssc­hluss die beste Option für die Ukraine ist, kann man nur hoffen, dass das Üble nicht über eine Flut von Schmähunge­n hinausreic­ht.

Aus dem Englischen von Jan Doolan Copyright: Project Syndicate, 2023. www.project-syndicate.org

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