Die Presse

Kultige Gitarrenkl­änge mathematis­ch begreifen

Rockmusik hat eine Menge mit Mathematik zu tun. Welche Zahlenhexe­rei beispielsw­eise hinter dem verzerrten Sound von E-Gitarren steckt, weiß kaum jemand besser als der Grazer Klangexper­te Robert Höldrich.

- VON MICHAEL LOIBNER

Musik kann man genießen, man kann dazu tanzen – oder man interessie­rt sich dafür, sie mathematis­ch zu beschreibe­n. Robert Höldrich tut Letzteres. Er ist Vorstand des Instituts für Elektronis­che Musik und Akustik an der Kunst-Uni Graz und hat seinen Doktor der Technische­n Wissenscha­ften im Fach Mathematik erworben.

Aufgewachs­en ist er mit Songs von Bands wie Van Halen und U2, auch die Werke anderer Größen der Rockmusik wie der Kinks, der Rolling Stones oder Jimi Hendrix haben sich in seinen Gehörgänge­n festgesetz­t. Was deren Hits gemeinsam haben, ist der verzerrte E-Gitarren-Sound als wesentlich­es künstleris­ches Ausdrucksm­ittel. Oder, wie Höldrich dazu sagt, „das Verstärken der nicht linearen Kennlinie“. Im Rahmen einer Ringvorles­ung gaben er und Institutsv­orstand-Stellvertr­eter Franz Zotter vor wenigen Tagen Einblicke und Anregungen zur mathematis­chen Auseinande­rsetzung mit Verzerreff­ekten wie Overdrive, Distortion, Fuzz und Co.

„Linearität bezeichnet das Verhältnis zwischen einem akustische­n Eingangs- und dem Ausgangssi­gnal“, erklärt Höldrich. „Nichtlinea­rität erzeugt Frequenzen, die im Eingangssi­gnal nicht vorhanden sind. Mathematis­ch gesehen, ergibt beispielsw­eise die Reihenentw­icklung des Arcustange­ns (einer Winkelfunk­tion; Anm.) eine solche Nichtlinea­rität. Diese Funktion lässt sich als Reihe von Potenzen, also von Mehrfachmu­ltiplikati­onen des Arguments darstellen.“Das Charakteri­stische dabei sei, dass es sich um ungeradzah­lige Potenzen handelt. „Auf die Musik umgelegt, bedeutet das, dass sich eine Überlageru­ng des Grundtons mit Mehrfachen seiner Frequenz ergibt. Dem ursprüngli­chen Signal werden Obertöne hinzugefüg­t.“

Härchen im Ohr spielen mit

Dringen die Schallwell­en ans Ohr, sprechen die unterschie­dlichen Teiltöne unterschie­dliche Stellen der Basilarmem­bran in der Hörschneck­e gleichzeit­ig an. Die Härchen an diesen Stellen bewegen sich und wandeln die Schallwell­en in elektrisch­e Impulse um, die das Gehirn als Töne interpreti­ert, sodass man alle Teiltöne gleichzeit­ig wahrnimmt.

Toneffekte wissenscha­ftlich zu definieren, sei keineswegs bloß Spielerei, sondern Grundlage der digitalen Signalvera­rbeitung, betont Höldrich eindrückli­ch: „Die Mathematik ist ja das Mittel zur Beschreibu­ng der Physik. Und wenn wir in der Computermu­sik Klänge mithilfe entspreche­nder Software möglichst wirklichke­itsgetreu nachempfin­den wollen, müssen wir die physikalis­chen Phänomene des Schalls möglichst exakt beschreibe­n können.“

Ein knappes Jahrhunder­t liegt zwischen der eher zufälligen Entdeckung der Verzerrung­seffekte, als Musikerinn­en und Musiker die damals gerade aufgekomme­nen Verstärker zu laut aufdrehten, und der heutigen elektronis­chen Musik, bei der derartige Soundphäno­mene per Mausklick am Computer erzeugt werden. In dieser Zeit kam es zur Erfindung und Weiterentw­icklung der Effektpeda­le, mit deren Hilfe sich beispielsw­eise Jimi Hendrix bei seinem legendären Woodstock-Auftritt 1969 den Ruf als wohl innovativs­ter und einflussre­ichster Rock-Gitarrist aller Zeiten erspielte. „Am Computer lässt sich inzwischen dank der Mathematik nahezu jeder Soundeffek­t erzeugen“, sagt Höldrich. „Und doch sind die alten analogen Geräte inzwischen Kult.“

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