Ich bin doch ich!
Identität ist genauso wie sein bürokratisches Gegenstück, der Personalausweis oder der Pass, historisch besehen sehr jung. Dass er sich fragen muss, wer er denn sei, ist das Schicksal des modernen Menschen – Entlastung und Last zugleich.
So viele Worte für das scheinbar Gleiche oder Ähnliche: ich, mich, Selbst, Individuum, oder eben Identität. Ich bin. Ich bin etwas. Ich bin wer. Ich bin ich. Dieses „Ich bin“gibt es zwiefältig: tautologisch, also ganz abstrakt, und prädikativ, mit vielen Eigenschaften und Prädikaten: Es macht einen Unterschied, wer oder was ich bin. Einmaligkeit, innere Einheit, unveränderliche Gleichheit mit sich selbst sind dabei immer im Spiel.
Ich bin etwas: männlich, weiblich; heterosexuell oder homosexuell; schwarz, weiß; Abteilungsleiterin oder Hilfsarbeiter; christlich, muslimisch, agnostisch; links oder rechts; jung, alt. Ich kann sportlich oder kunstinteressiert sein und die verschiedensten Formen von Ideologien oder Imagologien vertreten. Ich schreibe mir verschiedene Charaktereigenschaften zu bzw. sie werden mir auch auf den Leib geschnitten. Ganz schön viel auf einmal: Wenn ich meine Identitäten aufzuzählen beginne, vergehen mir Hören und Sehen, und ich weiß bei all den Prädikaten nicht mehr, wer ich bin. Ein umfängliches symbolisches Inventar zur Generierung meiner Identität steht mir zur Verfügung. Es gehört zum Schicksal des modernen Menschen, dass er nicht nur einer sichtbaren stofflich-materiellen, sondern auch einer symbolischen Hülle bedarf. Identität ist ein Symptom, Schicksal des modernen Menschen, der nicht mehr in eine als objektiv wahrgenommene Welt hineingeboren wird, sondern sein eigener Identitätsschneider ist. Entlastung und Last zugleich.
Sehr schön wird dieses Dilemma in Mira Lobes wundervollem Kinderbuch „Das kleine Ich bin ich“vorgeführt. Wie alle gelungene Kinderliteratur hat es unausgesprochen eine doppelte Leserschaft, die Kinder und jene, die mit ihnen das Buch anschauen und aus ihm vorlesen: die Eltern. Lobes Protagonistin, die nicht eindeutig geschlechtlich markiert ist, wird als ein unbestimmtes buntes Wesen beschrieben, das sich zunächst unschuldig in seiner Welt bewegt, bis ein Tier, ein Frosch, ihm mit der Frage in die Quere kommt, wer bzw. was es denn sei. Das kleine Ich bin ich weiß darauf zunächst keine Antwort, weshalb es verschiedene andere Tiere, ein Pferd, einen Fisch, einen Vogel, ein Nilpferd, einen Hund, fragt. Es beginnt an seiner Existenz zu zweifeln: Niemand kann ihm sagen, wer es ist, offenkundig auch, weil es anders ist als die anderen. Denn in der Welt, in die es geraten ist, besitzen alle außer ihm eine eindeutige Zuschreibung. Wer keinen symbolischen Pass besitzt, ist ein Niemand. Das bunte Tier ist am Rande der Verzweiflung, bis ihm der rettende Einfall kommt, dass es einen Ausweg gibt, nämlich den Gedanken: „Sicherlich gibt es mich. Ich bin ich!“Lobes Figur ist begeistert von ihrem Befund. In ihrer Freude an sich selbst möchte sie allen anderen Tieren diese Erkenntnis mitteilen.
Die Kindergeschichte stößt scheinbar ganz nebenbei ins Zentrum des Problems vor. Dazu gehört die Einsicht, dass die Frage nach Identität von außen eingefordert wird. Das kleine Lebewesen wird von anderen gefragt, und es fragt wiederum andere. So scheint die eigene Identität in die Hand der zuweilen fremd anmutenden Umgebung gelegt. Sie entscheidet, wer ich bin. Deshalb überrascht uns die Wendung in Mira Lobes Geschichte: Das muntere Wesen kapituliert nicht, es reklamiert keine konkrete Identität für sich und sieht sich auch nicht als Opfer von Missachtung. Es erklärt sich zu einem Ich, das als solches anerkannt sein will, als ein Lebewesen, das ein Ich hat und ist wie alle anderen auch. Seine Buntheit verrät zudem, dass das „Ich bin ich“selbst nicht aus einem Guss, vielmehr Kompositum und Konstrukt ist. Seine Identität ist provisorisch und tautologisch. Es ist, um mit dem Philosophen Paul Ricoeur zu sprechen, ein Ipse, ein Selbst, und kein Idem, das durch bestimmte Zuschreibungen fixiert ist. In der Geschichte blitzt die Idee auf, dass wir mehr oder minder alle solch bunte Wesen sind wie jenes im Kinderbuch – und nicht so sehr Namenseinträge im Pass, Angehörige fixierter Minderheiten oder Personen mit Standardbiografien.
Der Name der Figur hat aber noch einen anderen, sanft narzisstischen Unterton: Er meint „Ich bin doch wer!“. Identität heischt nach Anerkennung, und das heißt auch: Der Mensch ist von Kindesbeinen an ein Lebewesen, das akzeptiert und bestätigt sein will. Damit tritt ein weiterer Aspekt von Identität zutage – das schier unersättliche Begehren nach Beachtung. Das wird insbesondere virulent, wenn Identität nicht mehr nur individuell, sondern auch kollektiv in Anspruch genommen wird, von populistischen Protestbewegungen wie von Minderheiten und ihren digitalen Sprachrohren.
Atem, Herzschlag, Stimme
Das Wort Identität ist von seiner prädikativen Seite besehen ein Sample von Zuschreibungen (Gruppe, Alter, Geschlecht, Religion, Hautfarbe, Sprache, Ethnie, Lebensstil), zielt auf prädikative Selbstgleichheit, die zunächst unverrückbar erscheint, obschon einige doch, man denke an Alter, Sprache, nationale oder kulturelle Zugehörigkeit, einem Wandel unterliegen. Was im Verlauf des Lebens stabil bleibt, ist eben nur das „Ich bin ich“, das Ipse, eine abstrakte Unverwechselbarkeit, Atem, Herzschlag. Womöglich Stimme oder bestimmte Gesichtszüge, das Ensemble meiner Erinnerungen. Aber selbst Letztere sind der Veränderung im Älterwerden unterworfen.
In diesem Widerspruch zwischen Wandel und Stabilität bewegt sich Identität. „Wir können uns eine deutliche Vorstellung machen, dass ein Gegenstand, während die Zeit sich ändert, unverändert und ununterbrochen derselbe bleibt; diese Vorstellung bezeichnen wir als Vorstellung der Identität oder Selbigkeit“, schreibt der englische Philosoph Hume einmal.
Identität ist genauso wie sein bürokratisches Gegenstück, der Personalausweis oder der Pass, historisch besehen sehr jung. Philosophen wie Hume oder Locke diskutieren die Frage, wie identisch wir überhaupt mit uns wir sein können, wenn wir uns doch
Der Mensch ist von Kindesbeinen an ein Lebewesen, das akzeptiert und bestätigt sein will – das gilt auch im Kollektiv.
in stetem Wandel befinden. Paul Ricoeur spricht in diesem Zusammenhang vom Lockeschen Paradox: „Man betrachte etwa den Fall eines Prinzen, dessen Gedächtnis man in den Körper eines Flickschusters transplantiert; wird dieser zum Prinzen, der er seiner Erinnerung nach gewesen ist, oder bleibt er der Flickschuster, der er fortan in den Augen der anderen ist?“Bin ich noch derselbe wie der heidnische Häretiker von einst? Das fragt sich der Kirchenvater Augustinus in seinen „Bekenntnissen“. Bin ich noch derselbe Mensch?, fragt sich Orlando, die Hauptfigur in Virginia Woolfs gleichnamigem Roman, nachdem sie sich über Nacht von einem Mann in eine Frau verwandelt hat. Was festen Boden verheißt, Identität, wird in bedeutenden Werken der literarischen Moderne zu unsicherem Terrain. „Ich bin nicht Stiller“lautet der Stehsatz im Roman von Max Frisch, der wie andere Werke des Autors die Verweigerung von Identität ins Zentrum rückt, weil sie eine soziale Verpflichtung nach sich zieht. Das Individuum, das sich seiner Identität zu versichern sucht, erhält seinen historischen Auftritt erst zu jenem Zeitpunkt, als die Menschen, zunächst die Privilegierten, von den großen Traditionsmächten und ihren Institutionen, die in anderen Kontinenten dieser Erde bis heute dominieren, Abstand zu nehmen beginnen. In der europäischen Aufklärung büßen sie ihre Fraglosigkeit ein. Die Menschen sehen sich auf sich selbst zurückgeworfen oder erhalten, positiv formuliert, die Chance, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, Baumeister ihrer eigenen Identität zu werden.
Jetzt entsteht Identität durch Identifikation und ist eben nicht vom Ich, sondern stets von anderen bestimmt. Bei Freud eröffnet die Überwindung des Ödipus-Komplexes, dieser Aggression gegen den Vater als dem Nebenbuhler der Mutter, die Möglichkeit, sich mit ihm zu identifizieren und – in der Gesellschaft wie in der Beziehung mit einer Frau – seinen Platz in der realen und symbolischen Ordnung zu finden. Nicht mehr Einmaligkeit und innere Einheit stehen also im Vordergrund, sondern die Identifikation mit dem Vater oder der Mutter, die ihren Platz in der Gesellschaft haben. Eine friedliche Stabübergabe der Generationen ist unter den Bedingungen der Moderne schwierig geworden und nicht mehr die Regel.
Man könnte die literarische und künstlerische Moderne gerade durch die fortdauernde Revolte gegen die Welt der Väter und Mütter und deren Ordnung kennzeichnen.
Mit der Identitätspolitik wird ein neues Kapitel in der Diskursgeschichte menschlicher Selbstbefindlichkeit aufgeschlagen. Es ist – man denke nur an den Nationalismus – die Geburtsstunde beleidigter Identität. Nun geht es nicht mehr darum, fröhlich-aufklärerisch das eigene Ich-Sein zu bejubeln und von seiner Umgebung bestätigen zu lassen. Auch die paradoxe Erfahrung von Selbstauflösung und Entzug von Identität scheint im Zeitalter des Patchworks der Minderheiten nichts mehr wert zu sein. Mira Lobes Heldin würde heute beklagen, dass niemand ihre ganz spezifische „hybride“, partikulare, aber auch ethnische Identität anerkennt. Es wäre für sie kein Trost, dass die Anerkennung und Wertschätzung ihr als Mensch und Lebewesen gelten und dass es dabei zunächst einmal keine Rolle spielt, wer sie nun konkret hinsichtlich Herkunft, Farbe, Aussehen, Geschlecht, Alter, Beruf oder Herkunft ist. Vermutlich ist das Pochen auf Identität in einer individualistischen Gesellschaft, in der es darauf ankommt, Interessen von kleinen und großen Gruppen, die sich benachteiligt und nicht genügend anerkannt fühlen, sichtbar zu machen, unvermeidlich, eine Hilfskonstruktion im Sinne Freuds, die politische Handlungsfähigkeit ermöglicht. Das wäre das gewerkschaftliche Moment linker wie rechter Identitätspolitik.
Die inhaltlichen Unterschiede zwischen beiden könnten auf den ersten Blick nicht größer sein, aber die Identitätsobsession ist ihnen strukturell gemeinsam. Sämtliche Nationalismen beruhen auf dem symbolischen Bauplan rigider Identitätssetzungen und auf kollektivem Egoismus. Dabei wird das jeweilige Kollektiv als unverrückbare Entität begriffen, die es von allem Anfang an gegeben hat und die eine lange Leidensgeschichte hinter sich herträgt. Die Identitätspolitik im benachbarten Ungarn von heute ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat eine lange Tradition. Auch die Wutbürger in Frankreich, Deutschland und Österreich oder die „wahren“Finnen und Schweden erfahren sich als Opfer einer wiederum imaginierten europäischen oder globalen Elite. Sie haben vom Netzwerk linker kulturalistischer Minderheiten gelernt. Sie agieren als
Opfer, weil sie sich nicht anerkannt fühlen. Am Ende zerfällt die Gesellschaft in ein unübersichtliches Ensemble von kleinen quasi-nationalen Bläschen, die allesamt für ihre bedrohte Identität kämpfen. Der Preis dafür sind, wie jüngst Judith Butler befunden hat, der Verlust von Solidarität und eine der kapitalistischen Logik entsprechende Atomisierung der Gesellschaft. Das Problem mit der gegenwärtigen Identitätspolitik beginnt dort, wo der Dialog, aber auch der argumentative Schlagabtausch durch Hinweis auf Opferstatus, Identität oder emotionale Befindlichkeit pulverisiert wird.
Die Fremdheit, die uns verbindet
Die offene Gesellschaft bedarf einer Rationalität im Handeln wie einer Form von Dialog, der nicht Mittel, sondern Zweck ist: Der Dialog besteht im Kern nämlich darin, dass er ein wechselseitiges Anerkennen und Zuhören aller Beteiligten voraussetzt – unabhängig von ihrer jeweiligen Identität. Dabei bleibt immer ein Moment von Fremdheit, das uns zugleich verbindet. Die liberale Demokratie ist unverrückbar mit einer universellen Interpretation von Menschenrechten verbunden. Insofern ist sie dem Schutz von Minderheiten verpflichtet wie diese umgekehrt der liberalen Demokratie.
Der marxistische Literaturtheoretiker Terry Eagleton stellt diese Verbindung von Kultur und Identität infrage, wenn er meint, dass „ein bretonisches Liebeslied zu singen, eine Ausstellung mit afroamerikanischer Kunst zu veranstalten oder sich zur Lesbe zu erklären“nicht automatisch und zu allen Zeiten politisch sei, sondern erst durch den jeweiligen Kontext politisch werde. Er plädiert für eine Politik der Kultur, die ihr eine gewisse Unschuld und Gelassenheit zurückgibt: „Freilich gibt es Verfechter einer Identitätspolitik, die dann nicht wissen werden, was sie mit sich anfangen sollen; aber das ist ihr Problem, nicht unseres.“■
Bin ich noch derselbe wie der heidnische Häretiker von einst, fragt sich Kirchenvater Augustinus in seinen Bekenntnissen.