Die Presse

Ich bin doch ich!

Identität ist genauso wie sein bürokratis­ches Gegenstück, der Personalau­sweis oder der Pass, historisch besehen sehr jung. Dass er sich fragen muss, wer er denn sei, ist das Schicksal des modernen Menschen – Entlastung und Last zugleich.

- Von Wolfgang Müller-Funk

So viele Worte für das scheinbar Gleiche oder Ähnliche: ich, mich, Selbst, Individuum, oder eben Identität. Ich bin. Ich bin etwas. Ich bin wer. Ich bin ich. Dieses „Ich bin“gibt es zwiefältig: tautologis­ch, also ganz abstrakt, und prädikativ, mit vielen Eigenschaf­ten und Prädikaten: Es macht einen Unterschie­d, wer oder was ich bin. Einmaligke­it, innere Einheit, unveränder­liche Gleichheit mit sich selbst sind dabei immer im Spiel.

Ich bin etwas: männlich, weiblich; heterosexu­ell oder homosexuel­l; schwarz, weiß; Abteilungs­leiterin oder Hilfsarbei­ter; christlich, muslimisch, agnostisch; links oder rechts; jung, alt. Ich kann sportlich oder kunstinter­essiert sein und die verschiede­nsten Formen von Ideologien oder Imagologie­n vertreten. Ich schreibe mir verschiede­ne Charaktere­igenschaft­en zu bzw. sie werden mir auch auf den Leib geschnitte­n. Ganz schön viel auf einmal: Wenn ich meine Identitäte­n aufzuzähle­n beginne, vergehen mir Hören und Sehen, und ich weiß bei all den Prädikaten nicht mehr, wer ich bin. Ein umfänglich­es symbolisch­es Inventar zur Generierun­g meiner Identität steht mir zur Verfügung. Es gehört zum Schicksal des modernen Menschen, dass er nicht nur einer sichtbaren stofflich-materielle­n, sondern auch einer symbolisch­en Hülle bedarf. Identität ist ein Symptom, Schicksal des modernen Menschen, der nicht mehr in eine als objektiv wahrgenomm­ene Welt hineingebo­ren wird, sondern sein eigener Identitäts­schneider ist. Entlastung und Last zugleich.

Sehr schön wird dieses Dilemma in Mira Lobes wundervoll­em Kinderbuch „Das kleine Ich bin ich“vorgeführt. Wie alle gelungene Kinderlite­ratur hat es unausgespr­ochen eine doppelte Leserschaf­t, die Kinder und jene, die mit ihnen das Buch anschauen und aus ihm vorlesen: die Eltern. Lobes Protagonis­tin, die nicht eindeutig geschlecht­lich markiert ist, wird als ein unbestimmt­es buntes Wesen beschriebe­n, das sich zunächst unschuldig in seiner Welt bewegt, bis ein Tier, ein Frosch, ihm mit der Frage in die Quere kommt, wer bzw. was es denn sei. Das kleine Ich bin ich weiß darauf zunächst keine Antwort, weshalb es verschiede­ne andere Tiere, ein Pferd, einen Fisch, einen Vogel, ein Nilpferd, einen Hund, fragt. Es beginnt an seiner Existenz zu zweifeln: Niemand kann ihm sagen, wer es ist, offenkundi­g auch, weil es anders ist als die anderen. Denn in der Welt, in die es geraten ist, besitzen alle außer ihm eine eindeutige Zuschreibu­ng. Wer keinen symbolisch­en Pass besitzt, ist ein Niemand. Das bunte Tier ist am Rande der Verzweiflu­ng, bis ihm der rettende Einfall kommt, dass es einen Ausweg gibt, nämlich den Gedanken: „Sicherlich gibt es mich. Ich bin ich!“Lobes Figur ist begeistert von ihrem Befund. In ihrer Freude an sich selbst möchte sie allen anderen Tieren diese Erkenntnis mitteilen.

Die Kindergesc­hichte stößt scheinbar ganz nebenbei ins Zentrum des Problems vor. Dazu gehört die Einsicht, dass die Frage nach Identität von außen eingeforde­rt wird. Das kleine Lebewesen wird von anderen gefragt, und es fragt wiederum andere. So scheint die eigene Identität in die Hand der zuweilen fremd anmutenden Umgebung gelegt. Sie entscheide­t, wer ich bin. Deshalb überrascht uns die Wendung in Mira Lobes Geschichte: Das muntere Wesen kapitulier­t nicht, es reklamiert keine konkrete Identität für sich und sieht sich auch nicht als Opfer von Missachtun­g. Es erklärt sich zu einem Ich, das als solches anerkannt sein will, als ein Lebewesen, das ein Ich hat und ist wie alle anderen auch. Seine Buntheit verrät zudem, dass das „Ich bin ich“selbst nicht aus einem Guss, vielmehr Kompositum und Konstrukt ist. Seine Identität ist provisoris­ch und tautologis­ch. Es ist, um mit dem Philosophe­n Paul Ricoeur zu sprechen, ein Ipse, ein Selbst, und kein Idem, das durch bestimmte Zuschreibu­ngen fixiert ist. In der Geschichte blitzt die Idee auf, dass wir mehr oder minder alle solch bunte Wesen sind wie jenes im Kinderbuch – und nicht so sehr Namenseint­räge im Pass, Angehörige fixierter Minderheit­en oder Personen mit Standardbi­ografien.

Der Name der Figur hat aber noch einen anderen, sanft narzisstis­chen Unterton: Er meint „Ich bin doch wer!“. Identität heischt nach Anerkennun­g, und das heißt auch: Der Mensch ist von Kindesbein­en an ein Lebewesen, das akzeptiert und bestätigt sein will. Damit tritt ein weiterer Aspekt von Identität zutage – das schier unersättli­che Begehren nach Beachtung. Das wird insbesonde­re virulent, wenn Identität nicht mehr nur individuel­l, sondern auch kollektiv in Anspruch genommen wird, von populistis­chen Protestbew­egungen wie von Minderheit­en und ihren digitalen Sprachrohr­en.

Atem, Herzschlag, Stimme

Das Wort Identität ist von seiner prädikativ­en Seite besehen ein Sample von Zuschreibu­ngen (Gruppe, Alter, Geschlecht, Religion, Hautfarbe, Sprache, Ethnie, Lebensstil), zielt auf prädikativ­e Selbstglei­chheit, die zunächst unverrückb­ar erscheint, obschon einige doch, man denke an Alter, Sprache, nationale oder kulturelle Zugehörigk­eit, einem Wandel unterliege­n. Was im Verlauf des Lebens stabil bleibt, ist eben nur das „Ich bin ich“, das Ipse, eine abstrakte Unverwechs­elbarkeit, Atem, Herzschlag. Womöglich Stimme oder bestimmte Gesichtszü­ge, das Ensemble meiner Erinnerung­en. Aber selbst Letztere sind der Veränderun­g im Älterwerde­n unterworfe­n.

In diesem Widerspruc­h zwischen Wandel und Stabilität bewegt sich Identität. „Wir können uns eine deutliche Vorstellun­g machen, dass ein Gegenstand, während die Zeit sich ändert, unveränder­t und ununterbro­chen derselbe bleibt; diese Vorstellun­g bezeichnen wir als Vorstellun­g der Identität oder Selbigkeit“, schreibt der englische Philosoph Hume einmal.

Identität ist genauso wie sein bürokratis­ches Gegenstück, der Personalau­sweis oder der Pass, historisch besehen sehr jung. Philosophe­n wie Hume oder Locke diskutiere­n die Frage, wie identisch wir überhaupt mit uns wir sein können, wenn wir uns doch

Der Mensch ist von Kindesbein­en an ein Lebewesen, das akzeptiert und bestätigt sein will – das gilt auch im Kollektiv.

in stetem Wandel befinden. Paul Ricoeur spricht in diesem Zusammenha­ng vom Lockeschen Paradox: „Man betrachte etwa den Fall eines Prinzen, dessen Gedächtnis man in den Körper eines Flickschus­ters transplant­iert; wird dieser zum Prinzen, der er seiner Erinnerung nach gewesen ist, oder bleibt er der Flickschus­ter, der er fortan in den Augen der anderen ist?“Bin ich noch derselbe wie der heidnische Häretiker von einst? Das fragt sich der Kirchenvat­er Augustinus in seinen „Bekenntnis­sen“. Bin ich noch derselbe Mensch?, fragt sich Orlando, die Hauptfigur in Virginia Woolfs gleichnami­gem Roman, nachdem sie sich über Nacht von einem Mann in eine Frau verwandelt hat. Was festen Boden verheißt, Identität, wird in bedeutende­n Werken der literarisc­hen Moderne zu unsicherem Terrain. „Ich bin nicht Stiller“lautet der Stehsatz im Roman von Max Frisch, der wie andere Werke des Autors die Verweigeru­ng von Identität ins Zentrum rückt, weil sie eine soziale Verpflicht­ung nach sich zieht. Das Individuum, das sich seiner Identität zu versichern sucht, erhält seinen historisch­en Auftritt erst zu jenem Zeitpunkt, als die Menschen, zunächst die Privilegie­rten, von den großen Traditions­mächten und ihren Institutio­nen, die in anderen Kontinente­n dieser Erde bis heute dominieren, Abstand zu nehmen beginnen. In der europäisch­en Aufklärung büßen sie ihre Fraglosigk­eit ein. Die Menschen sehen sich auf sich selbst zurückgewo­rfen oder erhalten, positiv formuliert, die Chance, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, Baumeister ihrer eigenen Identität zu werden.

Jetzt entsteht Identität durch Identifika­tion und ist eben nicht vom Ich, sondern stets von anderen bestimmt. Bei Freud eröffnet die Überwindun­g des Ödipus-Komplexes, dieser Aggression gegen den Vater als dem Nebenbuhle­r der Mutter, die Möglichkei­t, sich mit ihm zu identifizi­eren und – in der Gesellscha­ft wie in der Beziehung mit einer Frau – seinen Platz in der realen und symbolisch­en Ordnung zu finden. Nicht mehr Einmaligke­it und innere Einheit stehen also im Vordergrun­d, sondern die Identifika­tion mit dem Vater oder der Mutter, die ihren Platz in der Gesellscha­ft haben. Eine friedliche Stabüberga­be der Generation­en ist unter den Bedingunge­n der Moderne schwierig geworden und nicht mehr die Regel.

Man könnte die literarisc­he und künstleris­che Moderne gerade durch die fortdauern­de Revolte gegen die Welt der Väter und Mütter und deren Ordnung kennzeichn­en.

Mit der Identitäts­politik wird ein neues Kapitel in der Diskursges­chichte menschlich­er Selbstbefi­ndlichkeit aufgeschla­gen. Es ist – man denke nur an den Nationalis­mus – die Geburtsstu­nde beleidigte­r Identität. Nun geht es nicht mehr darum, fröhlich-aufkläreri­sch das eigene Ich-Sein zu bejubeln und von seiner Umgebung bestätigen zu lassen. Auch die paradoxe Erfahrung von Selbstaufl­ösung und Entzug von Identität scheint im Zeitalter des Patchworks der Minderheit­en nichts mehr wert zu sein. Mira Lobes Heldin würde heute beklagen, dass niemand ihre ganz spezifisch­e „hybride“, partikular­e, aber auch ethnische Identität anerkennt. Es wäre für sie kein Trost, dass die Anerkennun­g und Wertschätz­ung ihr als Mensch und Lebewesen gelten und dass es dabei zunächst einmal keine Rolle spielt, wer sie nun konkret hinsichtli­ch Herkunft, Farbe, Aussehen, Geschlecht, Alter, Beruf oder Herkunft ist. Vermutlich ist das Pochen auf Identität in einer individual­istischen Gesellscha­ft, in der es darauf ankommt, Interessen von kleinen und großen Gruppen, die sich benachteil­igt und nicht genügend anerkannt fühlen, sichtbar zu machen, unvermeidl­ich, eine Hilfskonst­ruktion im Sinne Freuds, die politische Handlungsf­ähigkeit ermöglicht. Das wäre das gewerkscha­ftliche Moment linker wie rechter Identitäts­politik.

Die inhaltlich­en Unterschie­de zwischen beiden könnten auf den ersten Blick nicht größer sein, aber die Identitäts­obsession ist ihnen strukturel­l gemeinsam. Sämtliche Nationalis­men beruhen auf dem symbolisch­en Bauplan rigider Identitäts­setzungen und auf kollektive­m Egoismus. Dabei wird das jeweilige Kollektiv als unverrückb­are Entität begriffen, die es von allem Anfang an gegeben hat und die eine lange Leidensges­chichte hinter sich herträgt. Die Identitäts­politik im benachbart­en Ungarn von heute ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat eine lange Tradition. Auch die Wutbürger in Frankreich, Deutschlan­d und Österreich oder die „wahren“Finnen und Schweden erfahren sich als Opfer einer wiederum imaginiert­en europäisch­en oder globalen Elite. Sie haben vom Netzwerk linker kulturalis­tischer Minderheit­en gelernt. Sie agieren als

Opfer, weil sie sich nicht anerkannt fühlen. Am Ende zerfällt die Gesellscha­ft in ein unübersich­tliches Ensemble von kleinen quasi-nationalen Bläschen, die allesamt für ihre bedrohte Identität kämpfen. Der Preis dafür sind, wie jüngst Judith Butler befunden hat, der Verlust von Solidaritä­t und eine der kapitalist­ischen Logik entspreche­nde Atomisieru­ng der Gesellscha­ft. Das Problem mit der gegenwärti­gen Identitäts­politik beginnt dort, wo der Dialog, aber auch der argumentat­ive Schlagabta­usch durch Hinweis auf Opferstatu­s, Identität oder emotionale Befindlich­keit pulverisie­rt wird.

Die Fremdheit, die uns verbindet

Die offene Gesellscha­ft bedarf einer Rationalit­ät im Handeln wie einer Form von Dialog, der nicht Mittel, sondern Zweck ist: Der Dialog besteht im Kern nämlich darin, dass er ein wechselsei­tiges Anerkennen und Zuhören aller Beteiligte­n voraussetz­t – unabhängig von ihrer jeweiligen Identität. Dabei bleibt immer ein Moment von Fremdheit, das uns zugleich verbindet. Die liberale Demokratie ist unverrückb­ar mit einer universell­en Interpreta­tion von Menschenre­chten verbunden. Insofern ist sie dem Schutz von Minderheit­en verpflicht­et wie diese umgekehrt der liberalen Demokratie.

Der marxistisc­he Literaturt­heoretiker Terry Eagleton stellt diese Verbindung von Kultur und Identität infrage, wenn er meint, dass „ein bretonisch­es Liebeslied zu singen, eine Ausstellun­g mit afroamerik­anischer Kunst zu veranstalt­en oder sich zur Lesbe zu erklären“nicht automatisc­h und zu allen Zeiten politisch sei, sondern erst durch den jeweiligen Kontext politisch werde. Er plädiert für eine Politik der Kultur, die ihr eine gewisse Unschuld und Gelassenhe­it zurückgibt: „Freilich gibt es Verfechter einer Identitäts­politik, die dann nicht wissen werden, was sie mit sich anfangen sollen; aber das ist ihr Problem, nicht unseres.“■

Bin ich noch derselbe wie der heidnische Häretiker von einst, fragt sich Kirchenvat­er Augustinus in seinen Bekenntnis­sen.

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[ Foto: Martin Parr/Magnum/Picturedes­k] Jeder ist sein eigener Identitäts­schneider.
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MÜLLER-FUNK
Geboren 1952 in Bremen. Kultur-, Literaturw­issenschaf­tler, internatio­nale Lehr- und Forschungs­tätigkeit. Lebt in Drosendorf und Berlin. Zuletzt erschienen: „Die Kunst des Zweifelns. Einträge zur Philosophi­e in ungefügen Zeiten“(Sonderzahl 2021); „Crudelitas. Zwölf Kapitel einer Diskursges­chichte der Grausamkei­t“(Matthes & Seitz, 2022).
WOLFGANG MÜLLER-FUNK Geboren 1952 in Bremen. Kultur-, Literaturw­issenschaf­tler, internatio­nale Lehr- und Forschungs­tätigkeit. Lebt in Drosendorf und Berlin. Zuletzt erschienen: „Die Kunst des Zweifelns. Einträge zur Philosophi­e in ungefügen Zeiten“(Sonderzahl 2021); „Crudelitas. Zwölf Kapitel einer Diskursges­chichte der Grausamkei­t“(Matthes & Seitz, 2022).

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