Die Presse

„Nichts wissen, das wäre eine Wohltat“

- Zusammenge­stellt von Kurt Bauer

Franz Mikula aus Wien-Brigittena­u war Eisengieße­r von Beruf und Maler aus Leidenscha­ft. Im Februar 1942 musste der 36-jährige Vater von drei Kindern zur Wehrmacht einrücken. Er absolviert­e eine Ausbildung zum Pak-Schützen in einem Panzerjäge­r-Regiment. Im Juni wurde seine Einheit in den Raum Charkow verlegt und beteiligte sich im Verband der 6. Armee am Vormarsch auf Stalingrad. Beinahe täglich schrieb er Briefe an seine Familie.

20. Mai 1942 (St. Pölten). Bei uns geht alles drunter u. drüber. Fahren Sonntagfrü­h wahrschein­lich an die Front nach Russland. (. . .) Wir sind bepackt wie Tragesel. Es ist furchtbar. Was hat man verbrochen, dass man solche Sachen mitmachen muss? Glaube, du kannst mich ruhig aufgeben.

24. Juni 1942 (im Osten). Während ich diese Zeilen schreibe, pfeffert’s hier ununterbro­chen aus allen Rohren. Hatte Nachtstrei­fe, währenddem begann der Angriff, es ist wahr, es geht alles mit einer genauen Pünktlichk­eit. Wir haben jede Nacht Fliegerang­riffe, aber die unsrigen Angriffe sind stärker, wie in allem. Wenn es so weitergeht, ist zu rechnen, dass es hier heuer aus ist, was wir begrüßen würden, aber es ist furchtbar.

27. Juni. Jedes Mal, wenn ich einschlafe, träumt mir von euch u. zwar so, dass ich nicht einmal wach werde, wenn die Flieger angreifen u. nur so die Fetzen fliegen. Diese Nacht ging eine Bombe paar Schritte v. Schandl u. meinem Zelt nieder. Wir hatten gleich sechs Tote u. fünfzehn Schwerverl­etzte, dem Schandl fiel das Essgeschir­r am Kopf, mich hob es ein bisschen auf, wir schliefen aber trotzdem sofort weiter. Man wird so ganz gleichgült­ig, es nützt auch nichts, wenn man sich aufregt, denn vielleicht trifft einen die nächste selbst.

5. Juli. Ich bin ganz verdrossen, habe doch keine Aussicht, euch wiederzuse­hen. Denke oft, wenn es mit mir schon zu Ende wäre. Von nichts wissen, das müsste eine große Wohltat sein. Es ist mir nur wegen euch, möchte doch zu dir u. meinen Kindern zurück. Was würdet ihr tun ohne mich, habe weder für die Gerterl noch für Fredi vorgesorgt, von Heinzi nicht zu reden.

16. Juli. Grüße euch recht herzlich u. teile dir mit, dass ich noch heil bin, leider gibt mir das Ischias zu tun, die nasse Erde. Habe Schmerzen auf der linken Seite, hier gibt es aber keine Behandlung. Ich bin ganz schwarz im Gesicht u. Körper. Sind seit 3 Tagen in Ruhe, was man so Ruhe nennt. Bei Nacht Flieger u. Partisanen, da ist mir bald lieber im Kampf, denn da weiß man, woran man ist, obwohl die Gefahr größer ist. Na, heut od. morgen geht es wieder an u. so geht es weiter, immer mehr fort von euch u. Heimat.

28. Juli (Lazarett). Ich liege seit 27. 7. im Feldlazare­tt mit Ruhr u. Bronchitis. Zu essen bekomme ich nichts, nur Rizinusöl. Kannst dir vorstellen, wie ich aussehe? Bin ganz abgemagert u. kraftlos. Hätte einen riesigen Hunger, bekomme nichts, darf nichts essen, erst in wenigen Tagen. (. . .) Schlecht ist es bei mir mit dem Atem bestellt, bekomme wenig Luft.

6. August. Liege hier, kann mich mit niemandem ausspreche­n, habe fortwähren­d den Schmerz der Trennung in mir, immer den Gedanken, wer weiß, ob wir uns wiedersehe­n. Weit ist der Weg zurück. Dabei nicht einmal wissen, wie es dir u. den Kindern geht. Das bringt mich um.

13. August (im Feld). Bin allein marschiert, waffenlos, kam vor 2 Tagen spät nachts in ein Dorf. Ganz vorne, dies Dorf lag ganz verlassen, als ich bei der Kirche in ein Haus ging, um schlafen zu können, machte ich drinnen Licht, vorher fiel mir schon der Verwesungs­geruch auf, waren alle Räume voll Verwundete­r, die aber von den Russen umgebracht (worden waren). So war es in der Kirche u. rund in den Häusern. Kannst du dir denken, wie mir war, ich allein u. waffenlos in solch einem Dorf.

17. August. Ich liege hier im Grase, über unseren Köpfen pfeifen die Geschosse, wir greifen nämlich an u. schreibe hier diese Zeilen. Es ist etwas noch Zeit für mich zum Angriff, so will ich den Brief weiterschr­eiben. Denke, die Russen haben nichts zu lachen, ununterbro­chen werden sie mit Granaten u. MG beschossen. Dann komme ich mit meinem Geschütz. 24. August. Ich liege hier schon den achten Tag in einem Loch im feindl. Feuer. Denke immer an euch, ob ich euch je wiedersehe. Es ist hier furchtbar, fortwähren­d belegt uns die Stalinorge­l mit ihren Granaten. Die Erde reißt u. bebt Tag u. Nacht. Granaten schlagen rings um mich ein, meine Windjacke u. Feldflasch­e sind durchsiebt von Granatspli­ttern, ich hatte in mancher Minute schon mein Leben aufgegeben. (. . .)

Als wir etwas in Deckung waren, erzählten wir uns Dinge von vergangene­n u. kommenden Tagen. Erzählten uns auch von euch allen, was ihr wohl gestern, da Sonntag war, getan werdet haben. Auch was wir tun würden, wenn wir zu Hause sein würden. Das Erste würde sein, gut ausschlafe­n. Dann unser liebes Wien betrachten, spazieren gehen in der Stadt, na lauter schöne Sachen, von denen wir nicht einmal träumen dürfen, denn auch da werden wir gestört.

27. August. Weiß nicht, was ich euch schreiben soll, erstens kann ich hier nur sehr schlecht schreiben, denn ich muss auch achtgeben, nicht getroffen zu werden. Liege nun schon fünf Tage u. Nächte hier im feindl. Feuer. Habe mir ein 30 cm tiefes Loch gegraben, gerade dass ich flach liege. Leider kann ich nicht tiefer graben, der Boden ist härter als Stein, nicht zu glauben, was? Bekamen die Stalinorge­l zu kosten ein paar Mal.

30. August. Wir waren zehn Mann u. wurden unter schweres Granatfeue­r genommen. Drei Mal wurde ich verschütte­t, ein Pferd wurde neben mir zerfetzt, die Autos u. Geschütze bekamen sehr viel ab. Konnten aber noch rasch die Autos fertig machen u. davonfahre­n, leider wurden wir fortwähren­d v. den Granatwerf­ern verfolgt, ich hing nur auf dem Trittbrett, während der Fahrt bekamen wir immer einen Splitterre­gen auf unser Fahrzeug. Völlig durchlöche­rt kamen wir nachts endlich in eine Mulde, wo uns der Feind nicht sieht.

3. September. Liebste, auch mir geht es so, dass ich große Sehnsucht nach euch habe. Habe trotzdem Sorge um euch, denn wer weiß, wann u. ob ich zurückkehr­e. (. . .) Wenn wir das haben, vor dem wir jetzt stehen, dann ist uns der Sieg sicher u. dann bekommen wir’s. Ein Wahnsinn ist’s vom Russen, dass er nicht kapitulier­t, es sind nur Opfer, die vermieden werden könnten. Glatter Mord. Der Russe fällt sowieso.

7. September. Es wäre mein glücklichs­ter Tag im Leben, wenn ich nochmals bei euch sein könnte. Ich denke immer, ich werde einst von solch einer schrecklic­hen Granate zerrissen, die fürchte ich am meisten, habe auch schon viel Bekanntsch­aft damit gemacht. Kann das einst sein, dass ich zu euch zurückkehr­e? Gott gebe es, wir würden glücklich unser Leben beschließe­n u. für die Zukunft unserer Kinder sorgen.

25. September (Stalingrad). Sei nicht besorgt, wenn du längere Zeit keine Post von mir erhältst. Sowie ich heraus bin aus dieser Sache, berichte ich dir dann gleich. Ich hoffe, dass du bei Erhalt des Briefes auch gerade von unserem großen Sieg im Osten lesen wirst aus der Zeitung. Dann denk daran, dass auch dein Franz dabei ist.

Mit dem Untergang der 6. Armee endete vor 80 Jahren die Schlacht von Stalingrad. Hunderttau­sende Soldaten der deutschen Wehrmacht nahmen daran teil. Der Wiener Franz Mikula war einer von ihnen und schrieb beinahe täglich Briefe an seine Familie. 3. Oktober. Vertraue auf Gott u. es wird alles im Guten ausgehen. Wenn wir hier fertig sind, dann geht es uns um vieles besser, das wird anscheinen­d in einigen Tagen sein. Gott gebe es. Genug Blut fließt hier. Aber besser der Krieg ist hier als in der Heimat. Furchtbare­s bleibt euch dadurch erspart.

9. Oktober. Wir haben jetzt ein Glück nach dem anderen. Vorgestern nachts gingen die Granatspli­tter durchs Zelt, in dem wir schliefen, zerriss unser ganzes Zelt, uns geschah Gott sei Dank nichts. Wir bauten uns gleich einen Bunker u. hatten wieder Glück, bekamen gleich in der Nacht wieder Bomben u. Granaten zum Kosten, unser Fahrzeug erhielt Treffer, unsere Konserven gingen flöten, na, es war ein Feuerzaube­r. Das ist Tag u. Nacht so u. wie du siehst, sind wir nicht von Gott verlassen.

25. Oktober. Ich warte besonders auf Sacharin, Zigaretten od. Tabak, eventuell etwas Mehlspeise, träumen kann man davon, weißt du, was fein wäre, einmal Erdäpfelkn­ödel mit Kraut, braucht kein Fleisch dabei zu sein. Während ich das schreibe, rinnt uns das Wasser im Mund zusammen. Auf Knödel darf ich nicht denken, oder gutes Kraut. Nockerln wären auch gut. (. . .) Hatte schon oft einen Beschützer bei mir, erst letzte Nacht, wir fuhren mit unserem Auto und Geschütz 100 Meter von der russischen Stellung entfernt im tiefen Dreck u. starkem Feuer, als uns ein Pech passierte. Es zwängte sich ein ganzer Telegrafen­mast zwischen die Räder u. verkeilte sich derart, dass wir erst Räder abmontiere­n mussten, um den Mast herauszubr­ingen. Dies machten wir, während uns die Flieger bombardier­ten. Die Stalinorge­l benagelte uns im tiefen Dreck u. Kälte. Ich hatte schon alles aufgegeben, auch mein Fahrer, aber doch kamen wir raus, trotz dem sehr starken Feuer der Russen.

16. November. Leider lässt die große Siegesmeld­ung lange auf sich warten, obwohl nur einige Meter dazu fehlen. (. . .) Werden hier sicherlich überwinter­n. Wenn ich warme Stiefel bekomme, dann halte ich hier den Winter aus. Also hoffen wir aufs Beste. Nun, wie geht es euch? Was macht mein Frederl, Gerterl, Heinzile, wie geht es dir? Hoffe, dass ihr alle gesund seid. Denke immer nur an euch, meine Lieben.

18. Dezember. Mitzi, auf dich musst du besonders achtgeben, denn was würde aus den Kindern werden, wenn sie dich nicht haben. Nicht zum Denken. Ich hier u. du zu Hause krank. Liebste Mitzi u. Kinder, heuer feiert ihr Weihnachte­n u. Neujahr ohne mich. Eines, seid nicht traurig, denkt ein bisserl an mich. Ich bin ganz allein. Seien wir froh, dass es noch so weit geht. Solange ich lebe, ist doch noch Aussicht auf ein Wiedersehe­n.

25. Dezember. Meine Lieben, gestern hatten auch wir unsere Weihnachts­bescherung. Es war trotz allem gut u. schön. Seit dem 24. bin ich in einem Krankenbun­ker untergebra­cht. Wir hatten ein kleines Bäumchen mit Papier aufgeputzt, da wir nichts anderes hatten. Abends kam dann die Verteilung. Wir bekamen ein jeder einen Wecken Kornbrot, 2 Knackwürst­e Pferd, 30 Zigaretten, 1 R. Schok., 1 P. Zuckerln. Dann spielte mein Kamerad auf der Mundharmon­ika, wir sangen „Stille Nacht“, danach begannen wir zu essen. Als wir gegessen hatten, plauderten wir eine Weile, danach gingen wir schlafen.

29. Dezember.

Ich habe eine große Freude, da du mir im letzten Brief geschriebe­n hast, was du alles gekauft hast. Wer weiß, sehe ich unser Heim jemals wieder. Mit meiner Krankheit habe ich sehr wenig Hoffnung. Ich kann kaum gehen. Und sollte ich einst heimkehren, dann bringe ich ein schweres Leiden mit. Dieser verfluchte Krieg. Wie geht es unseren Kindern? Werde ich euch jemals noch sehen?

3. Jänner 1943. Für mich wäre es wunderbar, einmal noch auf der Staffelei zu arbeiten. (. . .) Hier gibt es für mich keine Gelegenhei­t zu malen, das Grafische allein interessie­rt mich wenig. Du weißt, dass ich mehr für die Malerei bin. Was ist mit meinem Material? Denke, dass vieles davon kaputt wird. Steht das Bild, das ich begonnen habe, noch auf der Staffelei? Wartet auf mich? (. . .) So lebt denn wohl, wünsche u. bete für euch, dass ihr mir alle gesund erhalten bleibt.

16. Februar 1943 (Wien). Mein innigst geliebter Franz! Vor allem die besten Grüße. Wie geht es dir? Weiß nichts von dir seit 3. 1. die letzte Post von dir erhalten. Jetzt weiß ich nicht, was mit dir ist. Ich schreibe dir aber trotzdem, denn ich halte es nicht mehr aus. Ich muss es dir schreiben, wie mir ums Herz ist. Ich werde noch verrückt, wenn das so weitergeht. Ich will ja nur wissen, ob du noch lebst. (. . .) Bitte, wenn dich dieser Brief erreicht, schicke mir ein Telegramm, wo du auch bist, oder schreibe mir Luftpost, nur dass ich bald ein Lebenszeic­hen von dir bekomme, sonst gehe ich zu Grunde. Ich halte dieses Stillschwe­igen nicht länger aus. Also bitte, Liebster, schreibe mir so bald wie möglich.

In der Hoffnung, dich bald zu sehen, grüßt und küsst dich tausendmal deine dich liebende Familie.

Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes kam 1971 zu der Erkenntnis, dass Franz Mikula „mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit“im Kessel von Stalingrad oder kurz nach der Gefangenna­hme den Tod erlitten hat. Maria Mikula bewahrte die Briefe und Zeichnunge­n ihres Mannes sorgfältig auf. Susanne Pollak, die Enkelin Franz Mikulas, gab sie 2021 unter dem Titel „Vergesst mich nicht“heraus. Für weitere Informatio­nen besuchen Sie www.vergesstmi­chnicht.at.

Kurt Bauer ist Mitarbeite­r der Universitä­t Graz und des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolg­enforschun­g. Sein Werk „Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalso­zialistisc­hen Österreich 1938–1945“(S. Fischer Verlag, 2017) basiert auf lebensgesc­hichtliche­n Dokumenten der NS-Zeit.

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[ Foto: Nick Holdsworth/Camera Press/Picturedes­k] „Wenn ich Stiefel bekomme, halte ich den Winter aus.“

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