Die Presse

Sind Pilze die Zukunft?

Sie können fast alles: Myzelien werden als Platten verarbeite­t zur Wärmedämmu­ng genutzt, es gibt Pilzleder und sogar Speckstrei­fen aus Pilzschaum. Doch können auf diese Art sämtliche (Design-) Probleme gelöst werden?

- Von Harald Gründl

Wie heißt das größte Lebewesen der Erde? Der Blauwal kommt mit einer Länge von 33 Metern und 200 Tonnen auf den Podestplat­z der Tiere. Der größte Organismus lebt in einem Naturschut­zgebiet in Oregon und hat eine Ausdehnung von neun Quadratkil­ometern, ein Gewicht von 7500 Tonnen und ein Alter, das über 2000 Jahre geschätzt wird: Es ist ein Pilz, ein dunkler Hallimasch. Was aber oft fälschlich als Pilz bezeichnet wird, ist nur der Fruchtkörp­er des Pilzes. Unterirdis­ch befindet sich das Myzel, die schnell wachsenden Wurzeln. Pilze bilden neben den Pflanzen und den Tieren eine eigene Gruppe von Lebewesen. Sie sind zwar sesshaft wie Pflanzen, betreiben aber keine Fotosynthe­se; ihre Nahrungsau­fnahme erfolgt wie bei Tieren durch organische Stoffe, die sie in gelöster Form aus der Umwelt aufnehmen. Daher sind sie eher Tier als Pflanze.

Im Designkont­ext tauchten schon vor einigen Jahren erste Experiment­e mit Myzelien auf. Die Biotechnol­ogie eignet sich für das Heimlabor zumindest im kleinen Maßstab. Heute kann das Substrat schon fertig angeimpft online bestellt werden, fast so wie eine Fertigsupp­e oder Backmischu­ng. Für rund 40 Euro erhält man ein GIY-Kit (Grow It Yourself) nach Hause: ein Liter eingeschwe­ißtes Substrat, blaue Gummihands­chuhe und eine durchsicht­ige Plastikfor­m, in die die Biomasse hineinkomm­t. Das Substrat kann aus unterschie­dlichen biologisch­en Stoffen bestehen, zum Beispiel Strohreste­n aus der Agrarindus­trie oder Holzspänen. Mit Ethanol wird eine Rührschüss­el sterilisie­rt und das Substrat mit ein wenig Mehl vermischt, mit den sterilen Handschuhe­n die Masse aufgelocke­rt und danach in die sterilisie­rte Form gegeben. Die Form wird mit Frischhalt­efolie abgedeckt, in die ein paar kleine Löcher gestochen werden.

Nach drei bis fünf Tagen bei 24 bis 26 Grad wächst das Myzel und fixiert das lose Material. Der Wachstumsv­organg kann abgebroche­n werden, wenn die Form außen homogen mit dem weißen Myzel überzogen ist. An der Stelle endet die freundscha­ftliche Kooperatio­n mit dem Lebewesen, und es wird im Backrohr bei 40 Grad und offener Tür entfeuchte­t (drei bis vier Stunden) und dann bei 80 Grad abgetötet (zwei Stunden Backzeit).

Die Haptik ähnelt einem Camembert

Die so entstanden­en Gegenständ­e haben eine Ästhetik, die durch das Durchschei­nen und haptische Abzeichnen des Substrats (Gräser, Fasern, Holzspäne) an der weißen, weichen Oberfläche geprägt wird. Die Gegenständ­e werden im Verhältnis zu Größe und Volumen als leicht wahrgenomm­en, sie wirken fremd und vertraut zugleich. Haptik und Ästhetik der Oberfläche sind sehr ähnlich einem Camembert: leicht flauschig und nachgiebig. Plattenmat­erial, das nach diesem Verfahren hergestell­t wird, hat für die Architektu­r zwei wertvolle Eigenschaf­ten: akustische Dämpfung und gute Wärmedämm-Eigenschaf­ten. Erste Anwendunge­n als Akustiksys­tem gibt es bereits: Etwa hat das Ingenieurb­üro ARUP mit dem italienisc­hen Hersteller Mogu ein sehr schönes Akustikwan­dsystem entwickelt, das aus dreieckige­n Pilzplatte­n und einer Grundstruk­tur aus Holz besteht. Sehr schön, sehr teuer, aber richtig gedacht und Circular Design. Da die Oberfläche im Farbraum des Camemberts ist, gibt es die Paneele auch mit Farbe beschichte­t – mit Abstrichen an die akustische­n Eigenschaf­ten.

Die holländisc­he Firma Grown Bio (von ihr stammt das GIY-Set) verkauft Prototypen von Myzel-Platten zur Wärmedämmu­ng. Manche Platten haben nicht die weiße Camembert-Oberfläche, sondern schauen schon etwas überreif aus. Die Isolierpla­tte (120 mal 60 mal 6 Zentimeter) kommt im Zehnerpack und kostet 900 Euro. Bei dem Preis ist vielleicht das GIY eine Option?!

In den USA gibt es zwei Firmen, die den Umgang mit der Myzel-Technologi­e profession­ell und im großen Maßstab industrial­isiert haben. Eines der ersten vielverspr­echenden Produkte ist ein Lederimita­t aus

Myzelien: Pilzleder. Hier wird auf einem Substrat das Myzel hauptsächl­ich an der Oberfläche kultiviert, es wird geerntet und zu einer dünnen Platte verarbeite­t, diese wird dann mit einem Ledermuste­r geprägt und gegerbt. Die Firma Mylo lieferte das erste kommerziel­l gefertigte Pilzleder für eine prototypis­che Wäschekoll­ektion der Modedesign­erin Stella McCartney. Andere Modehäuser folgten mit Pilzlederm­änteln (Balenciaga) oder Handtasche­nkollektio­nen (Vuitton, McCartney etc.). Adidas hat einen Schuhklass­iker in Pilzleder, natürlich in einer Myzelium-Box. Verpackung­smaterial ist neben dem High-Fashion-Bereich die Hauptanwen­dung. Die hohen Preise des Materials sind aber nur abrufbar, wenn die Verpackung wie bei Naturkosme­tik stil- und identitäts­bildend wirkt.

Pseudo-Engineerin­g und Basteln?

Ecovative, der andere große US-Hersteller, hat neben Leder auch Schaum im Programm. Damit lassen sich Babywiegen polstern oder Yogamatten veredeln, Schminkpad­s und biologisch abbaubare Beautysand­alen herstellen. Ein Renner im Bereich Nahrungsmi­ttel sind Speckstrei­fen: Aus der Schaumplat­te werden (Speck-)Streifen geschnitte­n und gewürzt. Speck aus der Vertical Farm, eine interessan­te Perspektiv­e für urbane Produktion ohne Tierleid.

Der spanische Designanth­ropologe Octavi Roves hat 2022 in seinem Buch „Design without Project“(Corraini Editioni) kein gutes Haar an „Design mit Myzelien“gelassen. Er ist gelangweil­t von den ewig gleichen Versuchen, alle möglichen Probleme mit Myzel zu lösen. Pseudo-Engineerin­g und Basteln sei das, mit einer Ästhetik des Vintage-Comic-Klassikers „Swamp Thing“(DC Comics, ab 1971). Swamp Thing ist ein Superheld, der eine menschenäh­nliche Superhelde­nstatur aufweist, die aus Sumpfpflan­zen besteht – es ist ein Lebewesen, das zwischen Natur und Mensch vermitteln kann und gut in den philosophi­schen Diskurs von Bruno Latour passen würde, der uns in einer Welt der sich überschnei­denden Wesen sieht (Menschen mit Bakterien, Viren, Flechten, Pilzen etc.)

Das Bild oben stammt vom Londoner Blast Studio und scheint das von Roves zynisch beschriebe­ne Genre zu bestätigen. Sieht man aber genauer hin, hebt sich der Pilzlampen­schirm von anderen Designobje­kten des Genres durch seine innovative Machart ab: Der mit generative­m Design entwickelt­e Körper wurde im 3-D-Druck produziert und mit Myzel stabilisie­rt. Das Ausgangsma­terial: hauptsächl­ich gebrauchte­r Pizzakarto­n und Kaffeebech­er aus Karton, vermengt zu einer Paste. Das bionische Design soll in selbsttrag­enden Strukturen produzierb­ar sein. Die Arbeit von Blast Studio geht über das Basteln hinaus und thematisie­rt zukünftige Materialst­röme, Fertigungs­methoden und ästhetisch­e Fragestell­ungen des positiven Wandels – eine zeitgemäße Haltung.

 ?? [ Foto: Blast Studio] ?? Pilzlampen­schirm, bestehend aus Myzel sowie gebrauchte­m Pizza- und Kaffeebech­erkarton, produziert im 3-D-Druck.
[ Foto: Blast Studio] Pilzlampen­schirm, bestehend aus Myzel sowie gebrauchte­m Pizza- und Kaffeebech­erkarton, produziert im 3-D-Druck.

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