Straßburg, ein geselliges Pflaster
Wenn es Frühling wird, empfiehlt sich ein Trip nach Straßburg. Später, im Sommer, wollen so viele hin.
Straßburg schmeckt. Wie oft waren wir schon da, geschmeckt hat es immer. „Os a` moelle, pain campagnard et ail confit“– „Knochenmark, Landbrot und Knoblauchconfit“– legt uns die Kellnerin in gemütlichem Elsässisch ans Herz, danach „Kalbsnieren in Senfsauce mit hausgemachten Spätzle“. Und als Dessert „Crème Bruˆlée mit Bourbonvanille vielleicht?“„Gern, danke. Wir haben heute noch viel vor, da verliert sich das wieder . . .“
Der Name Le Tire-Bouchon (Korkenzieher) passt im Elsass für eine „Winstub“, diesen urelsässischen Hort von Geselligkeit. Aus der Diele geht es ein paar Stufen hinauf, wo holzgetäfelte Wände, Holztische und weinrote Tischdecken in gastliche Räume einladen. Am Nachbartisch sitzen zwei Elsässer und ihre Freunde aus Neukaledonien beim Dessert, Topfenkuchen: „Superbe.“Hinter uns schwärmen zwei sehr gute Esser aus Texas: „Food is grrreat, and the city is grrrreat“– und gurren die r breit und tief.
Draußen auf der Rue du Maroquin sind Scharen von Besuchern unterwegs, kein Wunder, ein Haus ist schöner als das andere. Und es gibt so viele in der Stadt – in Fachwerk, Putz und Sandstein. Maison Kammerzell neben der Kathedrale ist vielleicht das schönste. Man sieht bemalte Fassaden, Häuser aller Stilepochen. Straßburg meint es nicht nur kulinarisch – mit Haubenund Sternelokalen, Patisserien, Delikatessenläden – gut, auch Geist, Auge, Herz und Gemüt nährt es mit.
Romantische Fachwerkkulisse
Wir flanieren hier um die Kathedrale und zehn Fußminuten weiter in La Petite France, dem malerischen Quartier mit Fachwerkkulisse wie aus einem Märchenbuch. Grande ˆ Ile heißt der magische Ort, Große Insel, auf ihr liegt dieses historische Zentrum, umflossen von den Armen des Flusses Ill. Als „europäische Stadtszenerie“ist die ˆIle ein Unesco-Weltkulturerbe gemeinsam mit der Neustadt am anderen Ufer, ein Stück kaiserliches Deutschland, wie man es dort kaum findet.
Die Grande ˆ Ile lädt in Winstubs, auf baumbestandene Plätze und Terrassen ein. Gegen Abend findet man sich bei Bier, Wein und Spritz zusammen, bestellt Köstlichkeiten, und in der warmen Jahreszeit erklingt auf den Wiesen und Wegen am Ufer der Ill Gitarrenspiel.
Vertikale und Erleuchtung
Am späten Vormittag sind wir unter den zahlreichen Passanten, die durch die Rue Mercière zur gotischen Kathedrale strömen. In rosafarbenem Sandstein erhebt sich das Liebfrauenmünster, die Cathédrale Notre-Dame, aus der Enge der Stadt – eine einzige in den Himmel strebende Vertikale. Gewände, Fialen, Stabwerk, monumentale Plastik, Spitzbogen, die riesige Fensterrose – das Auge verliert sich in dieser Fassade, verirrt sich im Maßwerkvorhang, der sie wie ein Spitzenkleid schmückt. Fast drei Jahrhunderte (von 1176 bis 1439) haben die Baumeister für dieses europäische Meisterwerk gebraucht.
Durch das prächtige Zentralportal tauchen wir in das Münster ein. Licht, das Symbol himmlischer Erleuchtung der Gotik, flutet ihr Inneres durch die Glasmalereien der Fenster, 70 große sind es allein im Obergaden. Der Glanz der Transzendenz erfüllt den hohen Raum des visionären Baumeisters Erwin von Steinbach. Er fällt auf die vergoldete Schwalbennestorgel, den Engelspfeiler (eine Säulenskulptur und Darstellung des Jüngsten Gerichts mit zwölf Plastiken), das Wunderwerk von astronomischer Uhr, die prachtvolle Kanzel.
Ein Ort der Zeitreise
Um mehr über eine Stadt zu erfahren, in der solche künstlerischen Meisterleistungen möglich waren, tauchen wir ein paar Schritte wei
ter im Le 5e Lieu, 5. Ort, wieder auf. In dem stattlichen Gebäude an der Place Du Ch teau neben dem schlossartigen Palais Rohan, der Kardinalsresidenz aus der französischen Barockzeit, kommen wir Straßburg näher. Hier wird von seinem Kulturerbe, seinen Menschen, ein erstaunliches Leben seit den Römern und noch früher erzählt. „Un Voyage ` Strasbourg“heißt die Multimediaausstellung, „Eine Reise nach Straßburg“. Strasbourg, wie es heute meist heißt, war immer eine der bedeutendsten Städte der Rheinlande und ein Handelszentrum. Die Stadt ist viele Jahrhunderte gebaute Geschichte, deutsch und französisch, an der Ill und ein bisschen auch am Rhein.
Europäische Hauptstadt
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Straßburg Sitz von Europaparlament, Europarat, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, des Europäischen Bürgerbeauftragten, von Eurokorps, Symbol des neuen Europa, der deutsch-französischen Aussöhnung und versteht sich als europäische Hauptstadt, als Europa-Hauptstadt. „Wir haben ein Zentrum gesucht, das allen europäischen Nationen zusagt und ein Symbol für die Einheit Europas werden kann. Die Wahl Straßburgs erschien mir logisch. Diese große Stadt war Zeuge der menschlichen Dummheit, die versuchte, die Dinge durch Krieg, Grausamkeit und Zerstörung zu regeln“, erklärte Ernest Bevin, britischer Staatssekretär für Außenpolitik, 1949. So zitiert ihn auch das Informationszentrum der Europäischen Institutionen in Strasbourg.
Eine blaue Straßenbahn verkündet es mit dem Schriftzug „Strasbourg, capitale europ enne“: europäische Hauptstadt. Sie schlängelt sich in Modulen – einmal mit Laufwerk, einmal schwebend – gelenkig durch die Stadt und grüßt: „Bienvenue“steht auf der Tram, „tervetuloa, willkommen, welcome, welkom, welkomm, velkommen“.
Da ist noch jema nd, der erzählt, was Straßburg, Strasbourg, Schdroosburi (im Dialekt) ist, und was seine Heimatstadt: der Grafiker und Schriftsteller Tomi Ungerer. Er hat für Straßburg einen Brunnen mit dem Titel „Naissance de la civilisation“entworfen ,bekanntals„Fontainede Janus“. Unter einem Aquädukt schaut ein doppelgesichtiger Janus in die Weite und Tiefe der Stadt, geprägt von Deutschland und Frankreich, zwischen Welten und Zeiten. Symbol ewiger Dualität ist Janus, römischer Gott von Anfang und Ende, der Tore, Portale und Übergänge. Janusköpfig blickt er zur Grande e hin, zum glorreichen alten deutsch-französischen Strasbou rg um das Münster, in die Vergangenheit nach Westen. Und and ererseits blickt Janus nach Osten in das wilhelminische Straßburg wie in einem riesigen Park mit Boulevards und weiten Plätzen, Palästen, Villen, Nationaltheater und Universität, in die Neustadt.
Römisch, gotisch, modern
Derweil plätschert vom Aquädukt das Wasser hinab zu Janus. Eine befestigte römische Siedlung war Vorgängerin der später bedeutenden Handelsstadt an Ill und Rhein. Französisch ist sie heute, international und elsässisch. Das Elsass liegt in der Luft, öffnet man die Tür in den Laden von Monsieur Vigneron aus dem kleinen Dorf Münster: Mon Oncle Malker. Es duftet nach Backwerk, würzigem Münsterkäse, nach Würsten. Regale und Vitrinen sind voller kulinarischer Schätze, wie die mit dem Senf.
Uns ist nach Höherem. Wir steigen 330 Stufen empor zur Münsterplattform auf 66 Metern. Der Blick schweift über die Dachlandschaft zu den Vogesen im Westen und zum Schwarzwald im Osten. Google Maps weiß das als Kurzinfo: „Beim Aufstieg auf den 142 Meter hohen Turm des Münsters bieten sich weite Blicke über den Rhein.“Wohl ein Drohnenmärchen. Wer kommt schon auf den Turm, er ist gesperrt. Kein Märchen ist die Sicht von der Plattform auf das Straßburg anno 1490 und das von 1730 mittels App „VR Strasbourg Cathédrale“– eine Zeitreise.
Türme und Fassaden von der Gotik bis in die Moderne spiegeln sich in der Ill, ein Spiegel des Lebens. Wir erleben ihn an Bord eines Batorama-Personenschiffs. Schleusen, Brücken und eine Schwenkbrücke passiert es in La Petite France, wo einst Gerber übel riechendes Gewerbe ausübten, Fischer und Müller lebten und sich ein Hospital der am sogenannten französischen Übel, der Syphilis, Erkrankten annahm. So kam das Viertel zu seinem Namen Kleinfrankreich. Heute ist der Ort an fünf Armen der Ill zum Schwärmen und zieht Reisende magisch an. Das Schiff gleitet um die Grande e durch die kaiserliche Neu stadt und das Europa-Quartier zurück zum Palais Rohan.
Nach dem Essen auf einer Terrasse über der Ill spazieren wir durch die abendliche Stadt. Einmal noch die Rue du Maroquin entlang, wo Menschen aufgeräumt vor Winstubs sitzen, vorbei an der Kathedrale mit diesem geheimnisvollen Licht in der Fassade, das aus ihrer Tiefe, ihrer Seele, zu glimmen scheint.
Die Tram capitale europ enne surrt vorbei, als wir auf die Grand’Rue, die Langstross, einbiegen, am Geschäft von EclairMeister Donatien vorbei durch Quergassen auf die Rue du 22 Novembre. Überall sitzt man nach dem Essen noch draußen und plaudert. Auf ein letztes Glas Riesling Grand Cru Pfingstberg setzen wir uns dazu. Um uns Menschen aus vielen Ländern. Straßburg bringt alle zusammen.