Die beiden 13-Jährigen L o und R´mi sind wie Pech und Schwefel – bis ihr zärtliches Näheverhältnis ihre Umwelt zu irritieren beginnt. Lukas Dhont im Gespräch über sein Drama „Close“, das heuer für den Auslandsoscar nominiert wurde.
ir sind nicht zusammen!“, beteuert der 13-jährige Léo (Eden Dambrine) energisch, als zwei seiner Klassenkameradinnen ihn kichernd darauf aufmerksam machen, dass er und sein Freund Rémi (Gustav De Waele) „irgendwie enger“wirkten als beste Kumpel. Was für eine blöde Unterstellung! Halten sie Händchen? Knutschen sie? Nein. Rémi und er sind einfach wie Brüder. Und überhaupt, er könnte dasselbe über die beiden Mädchen sagen.
Könnte er – aber für Mädchen gelten andere Regeln. Unausgesprochene zwar, aber trotzdem. Sie können als Freundinnen miteinander zärtlich sein, ohne neugierige Blicke auf sich zu ziehen – oder die Frage zu provozieren, ob sie „zusammen“sind. Bei Buben hingegen ist ab einem gewissen Alter Schluss damit, den Kopf auf die Schulter des anderen zu legen und Seite an Seite im selben Bett einzuschlafen. Weil das dann nicht mehr zu dem passt, was das gesellschaftliche Rollenbild „junger Mann“einfordert; es sei denn, man wählt bewusst ein anderes, bekennt sich etwa zur Homosexualität.
Von diesem zumeist nur bedingt freiwilligen Prozess geschlechtsbezogener Identitätsbildung bei Jugendlichen, die an der Schwelle zur Pubertät stehen, erzählt Lukas Dhonts zweiter Langspielfilm „Close“– unter anderem. Dass das bewegende, zum Teil betroffen machende Drama der 31-jährigen belgischen Regiehoffnung heuer für einen Auslandsoscar nominiert wurde, hat wohl auch mit diesem „Thema“zu tun; doch es wäre verfehlt, seine empfindsame Comingof-Age-Geschichte darauf zu reduzieren.
Vielmehr ist „Close“das sensible Porträt einer Freundschaft, die auf tragische Weise in die Brüche geht – und eine Auseinandersetzung mit den hartnäckigen Nachwehen
einer solchen Zäsur. Dhont inszeniert das Auseinanderdriften des impulsiven Draufgängers L o und des feinsinnigen Musikers Rémi als eine Art Vertreibung aus dem Paradies: Anfangs sind sie unzertrennlich, spielen und fantasieren gemeinsam, hirschen frohgemut durch die fluffigen Felder der bunten Blumenfarm, die Léos Familie in Gent – der Geburtsstadt des Regisseurs – führt. Doch bald treibt die teilweise unwirsche Reaktion der (schulischen) Umwelt auf die Freimütigkeit, mit der sie ihrem inneren Näheverhältnis auch äußerlich Ausdruck verleihen, einen Keil in ihre Beziehung.
In seiner Jugend gab es nur wenig Sichtbarkeit für die Spielräume und Möglichkeiten von Identitätsfindung, sagt Dhont im Gespräch mit der „Presse“: „Für das, was ich damals fühlte, was ich begehrte, fand ich in meinem Alltag und in der Popkultur kaum Repräsentationsformen. Mein Körper schien an Erwartungen geknüpft zu sein, deren Erfüllung für mich unmöglich war: Bei Männlichkeit ging es stets um Härte, Krieg, emotionale Unabhängigkeit und Stoizismus. Bei Mädchen war das anders, aber als Bub fühlte ich mich ihnen nicht zugehörig. Das führt zu einer Art von Einsamkeit, die viele kennen.“
Als einen Film, der ihm im Hinbl ick auf die Konstruiertheit sozialer Rollenbilder die Augen öffnete, nennt Dhont Chantal Akermans feministischen Klassiker „Jeanne Dielman“(heuer auf Platz eins der renommierten Beste-Filme-aller-Zeiten-Liste des britischen Magazins „Sight & Sound“). Mit 18 habe er dieses Porträt der monotonen Routinen einer verwitweten Hausfrau entdeckt – und danach anders auf seine Mutter und seine Großmutter geblickt: „Akerman hat mich mit filmischen Mitteln direkt mit meiner eigenen Wirklichkeit konfrontiert.“
Farbe, die spricht
Dhonts eigener Stil als Filmemacher ist von Akermans oft kühler, nüchterner Ästhetik weit entfernt. Er heftet sich lieber nah an seine Darsteller – Dambrine und De Waele standen für „Close“zum ersten Mal vor der Kamera – und sammelt begierig auch leiseste Gefühlsregungen. Als Léo einem Hockeyteam beitritt, um seine Mannhaftigkeit unter Beweis zu stellen (und um Frust abzubauen), schlittern die Bilder, von Unruhe beseelt, mit ihm übers Eis.
Markant ist auch Dhonts subtil ausgeklügelter , sprechender Einsa tzvonFarb e, geschult an seiner Mutter – einer Lehrerin, die in ihrer Freizeit malte: „Während mein Zugang zu Schauspielern eher dokumentarisch ist, orientiere ich mich visuell an Malerei.“Hier und anderswo neigt Dhont zum Metaphorischen: Tote Blüten stehen bei ihm für Niedergang, ein Gips für seelische Wunden.
Kritik erntete „Close“, wie schon Dhonts Debüt „Girl“, für einen melodramatischen Wendepunkt: Doch diesen kann man auch als stimmigen Teil eines dramaturgischen Ganzen betrachten, das in jeder Hinsicht darauf abzielt, das Spektrum „typisch“maskuliner Umgangsformen, Stimmungslagen und Verhaltensweisen im Kino zu erweitern.