Die Presse

Die beiden 13-Jährigen L o und R´mi sind wie Pech und Schwefel – bis ihr zärtliches Näheverhäl­tnis ihre Umwelt zu irritieren beginnt. Lukas Dhont im Gespräch über sein Drama „Close“, das heuer für den Auslandsos­car nominiert wurde.

- VONANDREYA R NOLD

ir sind nicht zusammen!“, beteuert der 13-jährige Léo (Eden Dambrine) energisch, als zwei seiner Klassenkam­eradinnen ihn kichernd darauf aufmerksam machen, dass er und sein Freund Rémi (Gustav De Waele) „irgendwie enger“wirkten als beste Kumpel. Was für eine blöde Unterstell­ung! Halten sie Händchen? Knutschen sie? Nein. Rémi und er sind einfach wie Brüder. Und überhaupt, er könnte dasselbe über die beiden Mädchen sagen.

Könnte er – aber für Mädchen gelten andere Regeln. Unausgespr­ochene zwar, aber trotzdem. Sie können als Freundinne­n miteinande­r zärtlich sein, ohne neugierige Blicke auf sich zu ziehen – oder die Frage zu provoziere­n, ob sie „zusammen“sind. Bei Buben hingegen ist ab einem gewissen Alter Schluss damit, den Kopf auf die Schulter des anderen zu legen und Seite an Seite im selben Bett einzuschla­fen. Weil das dann nicht mehr zu dem passt, was das gesellscha­ftliche Rollenbild „junger Mann“einfordert; es sei denn, man wählt bewusst ein anderes, bekennt sich etwa zur Homosexual­ität.

Von diesem zumeist nur bedingt freiwillig­en Prozess geschlecht­sbezogener Identitäts­bildung bei Jugendlich­en, die an der Schwelle zur Pubertät stehen, erzählt Lukas Dhonts zweiter Langspielf­ilm „Close“– unter anderem. Dass das bewegende, zum Teil betroffen machende Drama der 31-jährigen belgischen Regiehoffn­ung heuer für einen Auslandsos­car nominiert wurde, hat wohl auch mit diesem „Thema“zu tun; doch es wäre verfehlt, seine empfindsam­e Comingof-Age-Geschichte darauf zu reduzieren.

Vielmehr ist „Close“das sensible Porträt einer Freundscha­ft, die auf tragische Weise in die Brüche geht – und eine Auseinande­rsetzung mit den hartnäckig­en Nachwehen

einer solchen Zäsur. Dhont inszeniert das Auseinande­rdriften des impulsiven Draufgänge­rs L o und des feinsinnig­en Musikers Rémi als eine Art Vertreibun­g aus dem Paradies: Anfangs sind sie unzertrenn­lich, spielen und fantasiere­n gemeinsam, hirschen frohgemut durch die fluffigen Felder der bunten Blumenfarm, die Léos Familie in Gent – der Geburtssta­dt des Regisseurs – führt. Doch bald treibt die teilweise unwirsche Reaktion der (schulische­n) Umwelt auf die Freimütigk­eit, mit der sie ihrem inneren Näheverhäl­tnis auch äußerlich Ausdruck verleihen, einen Keil in ihre Beziehung.

In seiner Jugend gab es nur wenig Sichtbarke­it für die Spielräume und Möglichkei­ten von Identitäts­findung, sagt Dhont im Gespräch mit der „Presse“: „Für das, was ich damals fühlte, was ich begehrte, fand ich in meinem Alltag und in der Popkultur kaum Repräsenta­tionsforme­n. Mein Körper schien an Erwartunge­n geknüpft zu sein, deren Erfüllung für mich unmöglich war: Bei Männlichke­it ging es stets um Härte, Krieg, emotionale Unabhängig­keit und Stoizismus. Bei Mädchen war das anders, aber als Bub fühlte ich mich ihnen nicht zugehörig. Das führt zu einer Art von Einsamkeit, die viele kennen.“

Als einen Film, der ihm im Hinbl ick auf die Konstruier­theit sozialer Rollenbild­er die Augen öffnete, nennt Dhont Chantal Akermans feministis­chen Klassiker „Jeanne Dielman“(heuer auf Platz eins der renommiert­en Beste-Filme-aller-Zeiten-Liste des britischen Magazins „Sight & Sound“). Mit 18 habe er dieses Porträt der monotonen Routinen einer verwitwete­n Hausfrau entdeckt – und danach anders auf seine Mutter und seine Großmutter geblickt: „Akerman hat mich mit filmischen Mitteln direkt mit meiner eigenen Wirklichke­it konfrontie­rt.“

Farbe, die spricht

Dhonts eigener Stil als Filmemache­r ist von Akermans oft kühler, nüchterner Ästhetik weit entfernt. Er heftet sich lieber nah an seine Darsteller – Dambrine und De Waele standen für „Close“zum ersten Mal vor der Kamera – und sammelt begierig auch leiseste Gefühlsreg­ungen. Als Léo einem Hockeyteam beitritt, um seine Mannhaftig­keit unter Beweis zu stellen (und um Frust abzubauen), schlittern die Bilder, von Unruhe beseelt, mit ihm übers Eis.

Markant ist auch Dhonts subtil ausgeklüge­lter , sprechende­r Einsa tzvonFarb e, geschult an seiner Mutter – einer Lehrerin, die in ihrer Freizeit malte: „Während mein Zugang zu Schauspiel­ern eher dokumentar­isch ist, orientiere ich mich visuell an Malerei.“Hier und anderswo neigt Dhont zum Metaphoris­chen: Tote Blüten stehen bei ihm für Niedergang, ein Gips für seelische Wunden.

Kritik erntete „Close“, wie schon Dhonts Debüt „Girl“, für einen melodramat­ischen Wendepunkt: Doch diesen kann man auch als stimmigen Teil eines dramaturgi­schen Ganzen betrachten, das in jeder Hinsicht darauf abzielt, das Spektrum „typisch“maskuliner Umgangsfor­men, Stimmungsl­agen und Verhaltens­weisen im Kino zu erweitern.

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[ Polyfilm] Le´o (Eden Dambrine, r.) hilft in Lukas Dhonts „Close“auf der Blumenfarm seiner Eltern aus.

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