Ibsen und die Klima-Apokalypse
„Ein Volksfeind“wird im Landestheater St. Pölten zum Ökodrama, Gott sei Dank nicht nur: Im Zentrum bleibt, wie Mehrheiten mit unliebsamen Wahrheiten umgehen.
Ich habe eine Sehnsucht nach der nächsten Katastrophe. Denn wenn wir gemeinsam leiden, fällt dieses Unbehagen ab . . .“So singt die junge Petra am Ende von „Ein Volksfeind“im Landestheater St. Pölten aus einem Lied der österreichischen Musikerin Eva Jantschitsch. Petras Vater, der Badearzt Thomas Stockmann, ist in einer Bürgerversammlung seines Heimatorts zum „Volksfeind“erklärt worden, weil er ein wissenschaftliches Gutachten nicht vertuschen will: Das Wasser des Kurbades, auf dem die Hoffnungen der Stadt ruhen, ist verseucht.
Auch wenn der Öko-Aspekt in Ibsens Stück nicht im Zentrum steht, ist er ein Grund dafür, dass es derzeit auf und ab gespielt wird, von Frankfurt über Stuttgart bis Wien, jetzt auch St. Pölten. Umweltschützerin Petra als Vorläuferin heutiger Klimaaktivisten darzustellen liegt dabei auf der Hand. Regisseurin Anne Bader setzt aber auch die Entwicklung von Petras Vater in Beziehung zu einer heutigen Lust an der Apokalypse. „Es ist nichts daran gelegen, wenn eine lügenhafte Gesellschaft zugrunde geht“, heißt es etwa in Stockmanns Rede in der Bürgerversammlung, die zu seinem Ausschluss als „Volksfeind“führt, „möge das ganze Volk hier ausgerottet werden!“Das ist durch politische Desillusionierung aus dem naiven Optimisten geworden, der glaubte, er werde bei seinem Kampf für die Wahrheit natürlich „die geschlossene Mehrheit“hinter sich haben.
Aus der Tatsache, dass Ibsen seine Figuren nicht schwarz-weiß zeichnet, wird bisweilen gefolgert, er ergreife nicht so sehr Partei. Dabei richtet sich „Ein Volksfeind“klar gegen „geschlossene Mehrheiten“, die sich von alten Konventionen und Eigeninteressen in kollektive Lügen treiben lassen und die Verkünder unbequemer neuer Wahrheiten vernichten (Ibsen schrieb das 1882 uraufgeführte Stück nach feindseligen Reaktionen auf sein soziale Tabus brechendes Stück „Gespenster“). Stockmann sieht sich als Sprachrohr einer „jungen Generation“, die für Wahrheiten kämpfe, „so frisch, dass sie noch keine Mehrheit haben können“.
Er ist ein Rechthaber, aber er hat recht
Dass ein so kompromissloser Charakter nicht ohne Schattenseiten daherkommt, ist keine Abschwächung dieser Kritik, sie hat einfach mit Ibsens Realismus zu tun. Michael Scherff verkörpert in St. Pölten wunderbar auch Stockmanns befremdliche Seiten: Keinen Moment etwa sieht man ihn niedergedrückt, als sich sein Verdacht auf schädliche Keime bestätigt, im Gegenteil, sein Rechthaben scheint ihm beste Laune zu bereiten.
Andererseits strahlt sein Gegenspieler, der Bruder und Stadtverwalter, bei Ibsen Vernunft und Verantwortungsgefühl aus, wenn er an die verheerenden Folgen der Kurbadschließung für die Menschen denkt und sich um den Bruder sorgt. In dieser Inszenierung ist der Bruder eine Schwester (auch eine Anspielung auf niederösterreichische Politik?): Bettina Kerl würde einem wie der Inbegriff einer „Politik mit Augenmaß“vorkommen, wüsste man nicht, was sie zum „Wohl“der Stadt zu vertuschen bereit ist.
Ibsens Aufmerksamkeit richtet sich nicht so sehr auf die Art der vertuschten Wahrheit als auf die psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen kollektiver Lügen. Das ist es auch, was das Stück zeitlos wirken lässt. Wer erkennt denn nicht heutige Mitmenschen (und vielleicht ein Stück von sich selbst) in den zwei Wendehälsen wieder, dem Redakteur des „Volksboten“, Hovstad, und seinem Herausgeber, dem Unternehmervertreter Aslaksen? Gleich sind sie zur Stelle, um dem Badearzt begeistert Hilfe zuzusichern, der eine will die Enthüllung gleich für seine revolutionäre Agenda nutzen, der andere mahnt zur Mäßigung, um die Behörden nicht zu verärgern. Als die Stadtvorsteherin ihnen die wirtschaftlichen Folgen (auch für sie selbst) klarmacht, wechseln sie prompt auf ihre Seite; und wirken dabei genauso überzeugt von ihrer ehrlichen Überzeugung wie vorher. Ein Genuss, wie Tilman Rose als Aslaksen mit öligem Lächeln den so verbreiteten Typ des Anpassers spielt, der öffentlich „mutig“die ferne Regierung attackiert (gefahrlos, sie kümmert sich eh nicht drum), sich aber im Kleinen duckt, sobald er nur eine Spur persönlichen Nachteils erahnt.
In der St. Pöltener Eineinhalb-StundenVersion bleiben Stockmanns Frau und Söhne ausgespart, damit auch der Konflikt zwischen Stockmanns Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit und gegenüber seiner Familie. Das trägt dazu bei, den Fokus zu verstärken: auf die Art, wie die Politik, die Öffentlichkeit, wie Mehrheiten gern mit Wahrheiten umgehen, die ihnen nicht in den Kram passen. Damals wie heute.