Wenn große Ungleichheit auf kleines Wachstum trifft
Eine Reihe von Übeln belastet die Staatenwelt Südund Zentralamerikas. Die Wut der Habenichtse auf die Eliten ist riesig.
Nach den für Lateinamerika wirtschaftlich verheerenden Jahren 2020 und 2021, ausgelöst durch die Covid-19-Pandemie, gab es im vergangenen Jahr immerhin wieder ein Wachstum von rund 3,5 Prozent. Zugleich schwemmte neuerlich eine „rosa Welle“durch Südamerika, mit Machtwechseln hin zu linksorientierten Präsidenten in Kolumbien und Brasilien (in Argentinien, Chile, Bolivien und Peru regierten bereits linksgerichtete Staatschefs, während Venezuela und das zentralamerikanische Nicaragua linke Diktaturen sind).
Doch das neue Jahr begann mit einem doppelten politischen Schock. Gerade einmal acht Tage nach seiner Vereidigung für eine dritte Amtsperiode sah sich in Brasilien Luis Inácio Lula da Silva mit dem Versuch konfrontiert, ihn zu stürzen. Am 8. Jänner stürmten ein paar Tausend rechte Fanatiker in der Hauptstadt Brasilia den Regierungssitz, das Kongressgebäude und den Obersten Gerichtshof. Sie wollten so einen Militärputsch provozieren, der den im Herbst abgewählten rechtsgerichteten Rabaukenpräsidenten Jair Bolsonaro zurück aus dem Exil in Florida und möglicherweise erneut an die Macht gebracht hätte.
Das benachbarte Peru kommt seit der Amtsenthebung und Inhaftierung des linksorientierten Präsidenten Pedro Castillo im vergangenen Dezember nicht zur Ruhe. In den vergangenen Wochen kam es im ganzen Land zu blutigen Zusammenstößen zwischen Castillo-Anhängern und Sicherheitskräften mit Dutzenden Toten. Peru befindet sich seit Langem in einer Dauerkrise, das Land sei auf einem „gefährlichen Pfad zur Unregierbarkeit“, warnt der Politologe Gonzalo Banda.
Die jüngsten Ereignisse in Brasilien und Peru zeigen, wie potenziell zerbrechlich Demokratien in Lateinamerika sind, wie porös manche staatlichen Institutionen, wie gespalten viele Gesellschaften. Die Wurzeln dieser inneren Fragilität sind dabei auch in den meisten anderen Staaten Lateinamerikas vorhanden.
Ungleichheit: Lateinamerika ist neben Subsahara-Afrika die Region mit der größten Ungleichheit in der Welt. In Lateinamerika haben ein Prozent der Superreichen 25 Prozent der nationalen Einkommen in ihren Händen. In den Protestwellen, die in regelmäßigen Abständen durch die Staatenwelt des Subkontinents rollen, ertönt immer auch der Aufschrei gegen soziale Ungleichheit. Die Regierungen tun wenig bis nichts, um die Ungleichheit konsequent zu bekämpfen – fast überall werden die Reichen immer reicher,
während das Heer der Armen wächst. Auch linke Regierungen waren bei der Beseitigung von Ungleichheit mäßig bis gar nicht erfolgreich. Nach Angaben der UNO lebten 2021 gut ein Drittel der Einwohner Lateinamerikas in Armut.
Kriminalität: Ungleichheit ist auch ein guter Nährboden für das organisierte Verbrechertum. Drogenund Bandenkriminalität bedrohen Staat und Gesellschaft in etlichen Ländern. In Mexiko wurden in der inzwischen vierjährigen Regierungszeit des – linken – Präsidenten Andrés Manuel López Obrador 140.000 Morde gezählt. Der Einsatz des Militärs gegen Drogenkartelle und Jugendbanden in Mexiko oder El Salvador hat außer großem Getöse vor allem massive Menschenrechtsverstöße gebracht. In Kolumbien hat der linke Präsident Gustavo Petro den Krieg gegen Drogen als „irrational“bezeichnet. Petro überlegt sogar die Entkriminalisierung der Kokain-Produktion.
Rezession: Der Ukraine-Krieg und die damit verbundene Verteuerung von Lebensmitteln und Energie treffen auch die Volkswirtschaften Lateinamerikas hart. Der Internationale Währungsfonds erwartet für Lateinamerika ein Wachstum von 1,7 Prozent, auch die größten Volkswirtschaften Brasilien, Mexiko und Argentinien sollen nicht über zwei Prozent Wachstum kommen. Markanter steigt dafür die Inflation in zahlreichen Ländern. Tiefgreifende wirtschaftliche Reformen, um die Produktivität zu steigern, den Wettbewerb zu erhöhen und dadurch Preise zu senken sowie um ausländische Investitionen anzulocken, sind nicht zu erwarten. Lula da Silva hat den Kampf gegen die Armut zu einem seiner Hauptziele erklärt, 33 Millionen Einwohner Brasiliens sollen zu wenig zu essen haben. Doch seine Budgetmittel sind beschränkt, zumal er auch den Streitkräften viel Geld für ihre Modernisierung versprochen hat, um sie so politisch bei Laune zu halten und von Putschgelüsten abzubringen.
Gespaltene Gesellschaften: Die jüngsten Ereignisse in Brasilien und Peru zeigen, wie tief gespalten manche lateinamerikanische Gesellschaften sind. Lula da Silva gewann die Stichwahl um die Präsidentschaft mit gerade einmal 1,9 Prozent Vorsprung; der im Dezember entmachte Pedro Castillo hatte die Stichwahl gegen Keiko Fujimori mit gerade einmal 45.000 Stimmen mehr für sich entschieden.
In fast allen Ländern herrscht große Unzufriedenheit mit den Machthabern, die Eliten werden als korrupt, selbstsüchtig und unfähig wahrgenommen. Eingesessene Familien, die politisch und wirtschaftlich den Ton angeben, genießen in den Städten ein Leben in Saus und Braus, während draußen in den ländlichen Regionen Kleinbauern und Indigene auf kargen Feldern täglich einen mühsamen Kampf führen, um einigermaßen durchzukommen. Das jetzige Ringen in Peru ist ein klassischer Machtkampf Land gegen Stadt, Habenichtse gegen Wohlhabende.
Migration: Armut, politische und wirtschaftliche Instabilität, Korruption, Gewalt und Perspektivlosigkeit in Süd- und Zentralamerika lassen Hunderttausende ihrer Heimat den Rücken kehren und eine bessere Zukunft weiter im Norden, in Kanada, den USA oder Mexiko suchen. Die US-Regierung erfasst allein im März 2022 über 210.000 irreguläre Migranten an der Grenze zu Mexiko. Laut Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks waren 2022 6,8 Millionen Menschen aus Venezuela auf der Flucht, 600.000 aus El Salvador, Honduras und Guatemala suchten weltweit Asyl. Besonders alarmierend ist, dass sich unter den aus Süd- und Mittelamerika Flüchtenden immer mehr Kinder und Jugendliche befinden.
Kommt nun die rechte Welle?
Das UNO-Entwicklungsprogramm spricht von der „toxischen Kombination aus großer Ungleichheit und geringem Wachstum“in Lateinamerika. Diese werde teilweise durch die Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht, teilweise durch die weitverbreitete politische, kriminelle und soziale Gewalt sowie teilweise durch ökonomische Verzerrungen wegen defekter sozialer Sicherungssysteme und Arbeitsmarktregulierungen verursacht.
Die weit verbreitete AntiEstablishment-Stimmung, die die wirtschaftliche Stagnation noch verstärkt, wird gewiss auch die heurigen Wahlen in Guatemala, Paraguay und Argentinien beeinflussen. Einiges spricht dafür, dass nach der „rosa Welle“des vergangenen Jahres das Pendel wieder zurückschlägt und konservative Bewerber reüssieren könnten. Vor allem in Argentinien scheint eine Abwahl der linksgerichteten Peronisten, die das Land seit Jahren schlecht regiert und heruntergewirtschaftet haben, überfällig.