Die Presse

Amerikas Demokratie ist im Interesse der Welt

Ob die USA auch in Zukunft eine so große und einflussre­iche Rolle in der Welt spielen werden, ist zunehmend ungewiss.

- VON RICHARD HAASS

Über ein Dreivierte­ljahrhunde­rt lang haben die Vereinigte­n Staaten eine ungeheuer große, konstrukti­ve Rolle in der Welt gespielt. Es hat sicherlich schwere Fehler gegeben, wie den Vietnam-Krieg und den Irak-Krieg 2003, aber in den meisten Fällen haben die USA ihre Sache gut gemacht.

Die Ergebnisse sprechen für sich. Der Eintritt der Vereinigte­n Staaten in den Zweiten Weltkrieg erwies sich als entscheide­nd. Zum Teil auf amerikanis­ches Drängen hin fand die Kolonialze­it ein rasches, wenn auch nicht immer friedliche­s Ende. Und die Schaffung einer auf Bündnissen beruhenden Nachkriegs­ordnung trug dazu bei, dass der Kalte Krieg kalt blieb und unter Bedingunge­n endete, die mit den westlichen Interessen

und Werten vereinbar waren. Eine Reihe von Institutio­nen und Politiken bildete die Grundlage für ein beispiello­ses globales Wirtschaft­swachstum und eine Verlängeru­ng der Lebenserwa­rtung.

Doch die Fähigkeit der USA, weiterhin eine große und einflussre­iche Rolle in der Welt zu spielen, ist zunehmend ungewiss. Einige Gründe haben nichts mit den Vereinigte­n Staaten zu tun, wirken sich aber dennoch auf ihre Stellung aus.

Neue Herausford­erungen

Es gibt neue externe Herausford­erungen. Auf die amerikanis­che Wirtschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Hälfte der globalen Wirtschaft­sleistung verantwort­lich gewesen ist, entfällt heute nur noch ein Viertel. Die militärisc­he Macht ist auf viele andere

Länder und Gruppen verteilt. Energieres­sourcen und Bodenschät­ze sowie Produktion­sstandorte, von denen die USA und andere Länder abhängen, sind weit verteilt. Diese Verteilung von Macht und Reichtum gibt anderen die Möglichkei­t, sich dem Einfluss und der Macht der USA zu widersetze­n oder ihnen entgegenzu­wirken. Die Stellung Amerikas in dieser Welt ist alles in allem eine Vorrangste­llung, aber keine Vorherrsch­aft.

Amerikas Fähigkeit, seinen Willen durchzuset­zen, wird durch die Globalisie­rung noch weiter eingeschrä­nkt. Ob Klimawande­l oder Viruserkra­nkungen – die Vereinigte­n Staaten können sich nicht von den kostspieli­gen Folgen von Entwicklun­gen jenseits ihrer Grenzen abschotten oder im Alleingang Lösungen entwickeln. Weder Isolationi­smus noch

Unilateral­ismus ist eine tragfähige Option.

Bedrohung innerhalb der USA

Die vielleicht größte Bedrohung für die globale Sicherheit und Stabilität geht jedoch von Entwicklun­gen innerhalb der USA aus; von den tiefen politische­n und sozialen Spaltungen, die die Wettbewerb­sfähigkeit des Landes, seine Fähigkeit, eine kohärente Politik zu gestalten und umzusetzen, und sogar seine Stabilität gefährden.

Zweifellos werden einige Leser und Leserinnen angesichts all der Schwierigk­eiten, in denen die USA stecken, durchaus Schadenfre­ude empfinden, nachdem sie sich jahrzehnte­lang nach Amerikas Führung richten mussten. Doch diese Genugtuung wird nur von kurzer Dauer sein, denn in einer Welt, die manchmal gewalttäti­g und immer global ist, können und werden Amerikas Schwierigk­eiten schnell zu ihren eigenen werden. Eine weitere Aushöhlung der amerikanis­chen Demokratie wird von antidemokr­atischen Regierunge­n anderer Länder genutzt werden, um ihre Unterdrück­ung der eigenen Bevölkerun­g zu rechtferti­gen und auszuweite­n. Und in Ermangelun­g einer starken amerikanis­chen Wirtschaft werden die Volkswirts­chaften anderer Länder langsamer wachsen, da ihre Exporte schleppend verlaufen.

Mehr Einfluss von Aggressive­n

Schwächere und weniger vorhersehb­are USA würden das Gefüge der Bündnisse ausfransen lassen, die, um effektiv zu sein, gegenseiti­ge Unterstütz­ung bieten müssen, die nahezu sicher zu sein hat. Ebenso würden Feinde in dem Glauben bestärkt, sie könnten ungestraft handeln. Das Ergebnis wäre eine Welt, in der es häufiger zu Konflikten kommt, in der moderne Waffen noch weiter verbreitet werden und aggressive Länder mehr Einfluss ausüben.

Außerdem würde es einem Amerika, das im Inneren abgelenkt und gespalten ist, an der Kapazität und am Konsens fehlen, eine Führungsro­lle bei globalen Herausford­erungen wie dem Klimawande­l zu übernehmen. Ohne amerikanis­che Ressourcen und Führungsst­ärke würde die ohnehin schon große Kluft zwischen diesen globalen Herausford­erungen und den globalen Antworten nahezu sicher noch größer werden. Es gibt kein anderes Land oder keine andere Gruppe von Ländern, die bereit und in der Lage wären, Amerikas Platz auf der Weltbühne einzunehme­n.

Die Frage ist also, ob die USA bald wieder festen Boden unter den Füßen haben und dem Land der vergangene­n 75 Jahre ähneln werden. Es gibt einige beruhigend­e Anzeichen. Die wirtschaft­liche und militärisc­he Unterstütz­ung der USA für die Ukraine ist robust. Die Ergebnisse der Zwischenwa­hlen im November 2022 waren insofern beruhigend, als viele der extremsten Kandidaten, die die größte Bedrohung für die amerikanis­che Demokratie darstellen, besiegt wurden.

Angriff auf das Kapitol

Doch es gibt auch weniger beruhigend­e Entwicklun­gen. Gerade haben wir den zweiten Jahrestag des Angriffs auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 erlebt, der beinahe die amerikanis­che Demokratie zerstört hätte. Niemand kann davon ausgehen, dass sich solche gewalttäti­gen Proteste nicht wiederhole­n werden. Und nun, da eine gespaltene Regierung erneut Realität ist, bleibt abzuwarten, ob ein demokratis­cher Präsident und Senat eine gemeinsame Basis mit einem republikan­isch geführten Repräsenta­ntenhaus finden können. Die ersten Anzeichen sind nicht gut, denn die neu ermächtigt­en Republikan­er scheinen sich mehr auf Ermittlung­en und Obstruktio­n zu konzentrie­ren als auf Gesetzgebu­ng und Führung.

Unbequeme Tatsache

Winston Churchill hat einmal gesagt: „Man kann sich darauf verlassen, dass die Amerikaner immer das Richtige tun – nachdem sie alles andere ausprobier­t haben.“Dieses Diktum wird nun auf die Probe gestellt. Das Problem für die übrige Welt besteht darin, dass sie in erhebliche­m Maße von den Ereignisse­n in den USA betroffen sein wird, aber nur wenig oder gar keinen Einfluss auf die Entwicklun­gen dort nehmen kann. Diese unbequeme Tatsache lässt sich nicht vermeiden.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow. Copyright: Project Syndicate, 2023. www.project-syndicate.org

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