Die verhasste Pensionsreform
Im zweiten Generalstreik zeigt sich: Der Widerstand gegen Macrons Kernprojekt wächst. 70 Prozent lehnen die Anhebung der Pensionsalters auf 64 Jahre ab.
Erneut haben ein bis zwei Millionen Menschen auf den Straßen von mehr als 200 Städten gegen eine unpopuläre Reform des Altersvorsorgesystems in Frankreich demonstriert. Und wie schon am 19. Jänner waren vor allem die öffentlichen Verkehrsmittel und andere öffentliche Dienste, die Schulen, die kommunalen Verwaltungen sowie der Energiesektor von eintägigen Streiks weitgehend stillgelegt. Die Fronten in diesem Konflikt haben sich seit dem letzten Aktionstag noch verhärtet. Die Regierung kommt den Gegnern keinen Schritt entgegen. Sie will ihre Vorschläge ab 6. Februar den Abgeordneten der Nationalversammlung und anschließend dem Senat unverändert zur Billigung vorlegen und allenfalls geringfügigen Korrekturen zustimmen.
Bis dahin versuchen beide Seiten ihre Positionen in der Kraftprobe zu stärken. Der gewerkschaftliche Widerstand gegen die von Staatspräsident Emmanuel Macron gewünschte und von ihm für „unverzichtbar“erklärte Pensionsreform reißt nicht ab. Die acht Dachverbände der Arbeitnehmerorganisationen sind weiterhin geschlossen gegen das Vorhaben, das bisherige System der staatlichen
Altersvorsorge zu vereinheitlichen, das Pensionsalter auf 64 Jahre anzuheben und die für eine Vollrente erforderliche Beitragsdauer ab 2030 auf 43 Jahre zu verlängern, um so auch längerfristig (mit Horizont 2050) die Finanzierung der Sécurité sociale sicherzustellen – oder wenigsten zu vermeiden, dass die Verschuldung zu stark anwächst.
Auch Konservative kippen
Der Druck der „Straße“auf die Staatsführung nimmt eher noch zu. Beflügelt vom Mobilisierungserfolg melden bereits die Gewerkschaften in mehreren Sektoren, namentlich im Verkehr und Transport sowie in den Erdölraffinerien, nun vor der Parlamentsdebatte mehrtägige oder unbefristete Streikaktionen an. Dies hätte zweifellos drastischere Folgen für den Alltag und die Wirtschaft als die zwei „Eintagsfliegen“vom 19. und 31. Jänner.
Vor allem befürchtet die Staatsführung, dass sich die Mittelschüler und Studierenden noch mehr als bisher gegen diese Reform wenden könnten. Auf den Barrikaden sind bereits Feministinnen: Denn berufstätige Frauen, die wegen Mutterschaft und Erziehungsjahren oft mehr Lücken in ihrer Karriere aufweisen als die Männer und öfter als diese in Teilzeitverträgen mit entsprechend weniger Einkommen tätig sind, wären härter von der Reform betroffen. Dies räumte, gestützt auf eine Studie des Arbeitsministeriums, auch Franck Riester, der Minister für die Beziehungen mit dem Parlament, ein. In den Meinungsumfragen ist die Ablehnung der Reform (auf rund 70 Prozent) und die Zustimmung zur gewerkschaftlichen Mobilisierung (mehr als 60 Prozent) gestiegen.
In der Folge fragen sich nun auch Mitglieder der Regierungspartei Renaissance (früher La République en marche) und Abgeordnete der konservativen Oppositionspartei Les Républicains, die grundsätzlich für die Reform wäre, ob sie diese Vorlage, die in der Form einer bloßen gesetzlichen Änderung der Finanzierung der öffentlichen Sozialversicherungen eingebracht wird, noch unterstützen wollen oder können. Die linken Gegner der Vorlage fühlen sich im zweiten Generalstreik ohnehin bestärkt. Die Opposition setzt in der am 6. Februar beginnenden Parlamentsdebatte auf eine Obstruktionstaktik, indem sie bereits mehr als 7000 Änderungsanträge angemeldet hat, mit denen die Diskussionen fast endlos hinausgezögert werden sollen.
Durchboxen per Dekret?
Premierministerin É lisabeth Borne gibt den Gegnern kein Signal für eine Bereitschaft zu irgendwelchen Konzessionen. Wahrscheinlich steht mit der Vorlage auch ihr Posten als Regierungschefin von Emmanuel Macron auf dem Spiel. Sie hat klargestellt, die Erhöhung von 62 auf 64 Jahre für die nach 1961 Geborenen sei „kein Verhandlungsthema“. Sie kann aber nicht mehr sicher sein, für ihr Projekt in beiden Kammern eine Stimmenmehrheit zu bekommen.
Darum hat sie angekündigt, dass sie dank des (bisher äußerst selten verwendeten) Verfassungsartikels 47.1 nach maximal 50 Tagen die Debatten in beiden Kammern einfach abbrechen und die Reform mit Dekreten anordnen könnte. Die Opposition ist wegen dieser Drohung, die das Parlament in eine „machtlose Schwatzbude“verwandle, erst recht aufgebracht.