Die Presse

Londons riskanter EU-Exorzismus

Die britische Führung will Tausende EU-Gesetze über Bord werfen. Der Widerstand dagegen ist groß – aber die Regierung will unbedingt einen Brexit-Erfolg vorweisen können.

- Von unserem Korrespond­enten PETER STÄUBER

Drei Jahre ist es her, dass Großbritan­nien die Europäisch­e Union verlassen hat, Boris Johnson sprach damals von einem „Moment der nationalen Erneuerung“. Heute kämpft die britische Wirtschaft mit brexitbedi­ngtem Personalma­ngel, Unternehme­n klagen über zusätzlich­e Bürokratie, Investoren kehren Großbritan­nien den Rücken. Und immer mehr Briten kommen zur Überzeugun­g, dass der Brexit ein schwerer Fehler gewesen ist. Umfragen zeigen, dass inzwischen eine Mehrheit der Briten sogar einen Wiedereint­ritt befürworte­t.

Umso entschloss­ener klammert sich die britische Regierung unter dem neuen Premiermin­ister, Rishi Sunak, an den Glauben, dass der Brexit am Ende doch noch zum Aufschwung führt – und sie lässt nichts unversucht, um die Bevölkerun­g vom Nutzen des 2020 vollzogene­n EU-Austritts zu überzeugen. Hier kommt der Gesetzesvo­rstoß mit dem klobigen Namen „Beibehalte­nes EU-Recht (Widerruf und Reform) Vorlage 2022“ins Spiel.

Die Vorlage hat den Zweck, alle Gesetze und Regulierun­gen, die Großbritan­nien in seinen 47 Jahren als EU-Mitglied übernommen hat, zu überprüfen. Jene, die man beibehalte­n will, werden in britisches Recht übertragen – und der Rest über Bord geworfen. Erklärtes Ziel ist es, die „Brexit-Freiheiten“zu nutzen und die „einzigarti­ge Kultur der Innovation“in Großbritan­nien zu fördern. Die Gesetze betreffen unzählige Bereiche, von den Rechten der Konsumente­n über Insolvenzr­echt bis zu Lohngleich­heit und Umweltschu­tz.

Aber die Probleme beginnen schon damit, dass die Regierung gar nicht recht weiß, wie viele Gesetze es eigentlich sind. Anfangs war die Rede von 2400, aber im November entdeckte das Nationalar­chiv 1400 zusätzlich­e EU-Gesetze, die geprüft werden müssen. Und zwar schnell: Die Regierung will, dass das gesamte Unterfange­n bis Ende 2023 beendet ist – eine solche Auslaufkla­usel ist Teil der Vorlage. Alle Gesetze, die bis dann nicht in britisches Recht übertragen werden oder aktiv ausgemiste­t wurden, fallen automatisc­h weg.

Rechtsexpe­rten, Opposition­spolitiker und Unternehme­nsverbände haben große Bedenken. Zum einen ist es eine Mammutaufg­abe für die einzelnen Ministerie­n, ein Gesetz nach dem anderen eingehend zu studieren und zu entscheide­n, was damit geschehen soll. So ist zu befürchten, dass unzählige Regulierun­gen am Ende des Jahres einfach wegfallen, ohne dass sie durch bessere nationale Gesetze ersetzt werden konnte. „Das scheint in rechtliche­r Hinsicht fahrlässig“, sagt Joe¨l Reland vom Thinktank UK in a Changing Europe. Die Stiftung British Safety Council, die sich unter anderem für Sicherheit und Gesundheit­sschutz an Arbeitsplä­tzen und im Bausektor einsetzt, warnt, dass das Gesetz ein „Schwarzes Loch“hinterlass­en könnte.

Auch manche Unternehme­r sind wenig begeistert. Die Regierung sagt zwar, dass Großbritan­nien dank des Widerrufsg­esetzes „lästige EU-Regulierun­gen“loswerden kann. Aber als der Branchenve­rband British Chambers of Commerce seine Mitglieder fragte, wie wichtig Deregulier­ung für ihr Unternehme­n sei, meinte die Hälfte: Sie habe eine geringe Priorität, oder gar keine. Nur vier Prozent sagten, sie verstünden überhaupt, was das Gesetz genau bewirken solle.

Willkür statt neuer nationaler Ordnung

Die Vorlage gibt der Regierung weitreiche­nde Befugnisse: Sie könnte jedes EU-Gesetz ersetzen durch eine Regelung, die sie für angemessen hält, sofern damit ein ähnliches Ziel erreicht werden kann. Dadurch werde die britische Legislativ­e umgangen, und die Minister könnten im Prinzip tun, was sie wollten, warnt Ruth Fox vom Thinktank Hansard Society, der sich auf Rechtsfrag­en spezialisi­ert. Schon wird befürchtet, dass die Vorlage statt zu Deregulier­ung zu Chaos und schwerwieg­enden Verwerfung­en für die Wirtschaft führen könnte. Insbesonde­re im Außenhande­l mit anderen europäisch­en Ländern könnte ein Abgehen von bisherigen Standards neue Hürden schaffen.

Dass das Widerrufsg­esetz der britischen Öffentlich­keit den Glauben an den Brexit zurückgebe­n wird, ist denn auch nicht anzunehmen.

Viel wahrschein­licher ist es, dass auch dieser Vorstoß am Ende in der wachsenden Kategorie der Brexit-Misserfolg­e landen wird.

Großbritan­nien bildet laut einer am Dienstag veröffentl­ichten Auswertung das Schlusslic­ht in der IWF-Konjunktur­prognose für die G7-Staaten. Es schneidet darin sogar schlechter ab als das wegen seines Angriffskr­iegs gegen die Ukraine mit Sanktionen belegte Russland. Als Gründe für die düsteren Aussichten werden die sparsame Steuer- und Geldpoliti­k sowie die noch immer hohen Energiepre­ise genannt. In nicht unerheblic­hem Maße, so die Experten, sei auch der Brexit dafür verantwort­lich.

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[ Getty Images/Hollie Adams ] Tausende EU-Gesetze hatten bisher für die Briten weiterhin Gültigkeit.

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