Londons riskanter EU-Exorzismus
Die britische Führung will Tausende EU-Gesetze über Bord werfen. Der Widerstand dagegen ist groß – aber die Regierung will unbedingt einen Brexit-Erfolg vorweisen können.
Drei Jahre ist es her, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen hat, Boris Johnson sprach damals von einem „Moment der nationalen Erneuerung“. Heute kämpft die britische Wirtschaft mit brexitbedingtem Personalmangel, Unternehmen klagen über zusätzliche Bürokratie, Investoren kehren Großbritannien den Rücken. Und immer mehr Briten kommen zur Überzeugung, dass der Brexit ein schwerer Fehler gewesen ist. Umfragen zeigen, dass inzwischen eine Mehrheit der Briten sogar einen Wiedereintritt befürwortet.
Umso entschlossener klammert sich die britische Regierung unter dem neuen Premierminister, Rishi Sunak, an den Glauben, dass der Brexit am Ende doch noch zum Aufschwung führt – und sie lässt nichts unversucht, um die Bevölkerung vom Nutzen des 2020 vollzogenen EU-Austritts zu überzeugen. Hier kommt der Gesetzesvorstoß mit dem klobigen Namen „Beibehaltenes EU-Recht (Widerruf und Reform) Vorlage 2022“ins Spiel.
Die Vorlage hat den Zweck, alle Gesetze und Regulierungen, die Großbritannien in seinen 47 Jahren als EU-Mitglied übernommen hat, zu überprüfen. Jene, die man beibehalten will, werden in britisches Recht übertragen – und der Rest über Bord geworfen. Erklärtes Ziel ist es, die „Brexit-Freiheiten“zu nutzen und die „einzigartige Kultur der Innovation“in Großbritannien zu fördern. Die Gesetze betreffen unzählige Bereiche, von den Rechten der Konsumenten über Insolvenzrecht bis zu Lohngleichheit und Umweltschutz.
Aber die Probleme beginnen schon damit, dass die Regierung gar nicht recht weiß, wie viele Gesetze es eigentlich sind. Anfangs war die Rede von 2400, aber im November entdeckte das Nationalarchiv 1400 zusätzliche EU-Gesetze, die geprüft werden müssen. Und zwar schnell: Die Regierung will, dass das gesamte Unterfangen bis Ende 2023 beendet ist – eine solche Auslaufklausel ist Teil der Vorlage. Alle Gesetze, die bis dann nicht in britisches Recht übertragen werden oder aktiv ausgemistet wurden, fallen automatisch weg.
Rechtsexperten, Oppositionspolitiker und Unternehmensverbände haben große Bedenken. Zum einen ist es eine Mammutaufgabe für die einzelnen Ministerien, ein Gesetz nach dem anderen eingehend zu studieren und zu entscheiden, was damit geschehen soll. So ist zu befürchten, dass unzählige Regulierungen am Ende des Jahres einfach wegfallen, ohne dass sie durch bessere nationale Gesetze ersetzt werden konnte. „Das scheint in rechtlicher Hinsicht fahrlässig“, sagt Joe¨l Reland vom Thinktank UK in a Changing Europe. Die Stiftung British Safety Council, die sich unter anderem für Sicherheit und Gesundheitsschutz an Arbeitsplätzen und im Bausektor einsetzt, warnt, dass das Gesetz ein „Schwarzes Loch“hinterlassen könnte.
Auch manche Unternehmer sind wenig begeistert. Die Regierung sagt zwar, dass Großbritannien dank des Widerrufsgesetzes „lästige EU-Regulierungen“loswerden kann. Aber als der Branchenverband British Chambers of Commerce seine Mitglieder fragte, wie wichtig Deregulierung für ihr Unternehmen sei, meinte die Hälfte: Sie habe eine geringe Priorität, oder gar keine. Nur vier Prozent sagten, sie verstünden überhaupt, was das Gesetz genau bewirken solle.
Willkür statt neuer nationaler Ordnung
Die Vorlage gibt der Regierung weitreichende Befugnisse: Sie könnte jedes EU-Gesetz ersetzen durch eine Regelung, die sie für angemessen hält, sofern damit ein ähnliches Ziel erreicht werden kann. Dadurch werde die britische Legislative umgangen, und die Minister könnten im Prinzip tun, was sie wollten, warnt Ruth Fox vom Thinktank Hansard Society, der sich auf Rechtsfragen spezialisiert. Schon wird befürchtet, dass die Vorlage statt zu Deregulierung zu Chaos und schwerwiegenden Verwerfungen für die Wirtschaft führen könnte. Insbesondere im Außenhandel mit anderen europäischen Ländern könnte ein Abgehen von bisherigen Standards neue Hürden schaffen.
Dass das Widerrufsgesetz der britischen Öffentlichkeit den Glauben an den Brexit zurückgeben wird, ist denn auch nicht anzunehmen.
Viel wahrscheinlicher ist es, dass auch dieser Vorstoß am Ende in der wachsenden Kategorie der Brexit-Misserfolge landen wird.
Großbritannien bildet laut einer am Dienstag veröffentlichten Auswertung das Schlusslicht in der IWF-Konjunkturprognose für die G7-Staaten. Es schneidet darin sogar schlechter ab als das wegen seines Angriffskriegs gegen die Ukraine mit Sanktionen belegte Russland. Als Gründe für die düsteren Aussichten werden die sparsame Steuer- und Geldpolitik sowie die noch immer hohen Energiepreise genannt. In nicht unerheblichem Maße, so die Experten, sei auch der Brexit dafür verantwortlich.