Ist Liebe doch mehr als nur Chemie?
Wissenschaft/Philosophie. Wühlmäuse entwickeln auch ohne Rezeptoren für das „Liebeshormon“Oxytocin zärtliche Gefühle. Die überraschende Entdeckung ruft die große Debatte um das Leib-Seele-Problem in Erinnerung.
Wühlmäuse sind vielen verhasst, weil sie den Rasen verwüsten und den Gemüsegarten plündern. Dabei gibt es unter ihnen eine Art, die uns Respekt abringen sollte: Die Präriewühlmaus in Nordamerika gehört zu den wenigen Säugetieren, die rein monogam leben. Vater und Mutter ziehen ihre Kinder gemeinsam auf. Sie bleiben als Paar lebenslang zusammen, so eng, dass man mit Fallen oft zwei auf einmal fängt. Seitensprünge sind ihnen fremd: Nähert sich ein fremder möglicher Sexualpartner, reagieren sie aggressiv. Man könnte scherzen: Das halten sie nur durch, weil sie nicht älter als ein Jahr werden. Aber ihr Sozialverhalten ist ein seriöses Studienobjekt. Forscher lehren: Es liegt an der starken Ausschüttung von Oxytocin, jenem Botenstoff, den eine breite Öffentlichkeit als „Liebes-“, „Kuschel-“oder „Treuehormon“kennt.
Dieses Neuropeptid wird freigesetzt, wenn wir uns streicheln und umarmen. Ein hoher Spiegel korreliert mit einem Gefühl des Vertrauens. Aber es sorgt auch dafür, dass Mütter ihre Kinder säugen können. Raubt man Embryos von normalen Labormäusen mit der Crisp-Genschere die Fähigkeit, Rezeptoren auszubilden, an denen Oxytocin andocken kann, geben sie ausgewachsen keine Milch. Auch Präriemäuse lassen die Paarbindung sein, wenn man ihnen Wirkstoffe verabreicht, die das Binden des Neurotransmitters an Zellen blockieren.
Ein entsprechendes Ergebnis erwarteten deshalb Kristen Berendzen und ihr Team in Stanford, als sie erstmals Präriemäuse so wie Labormäuse genetisch bearbeiteten (Neuron, 27.1.). Aber zu ihrer großen Überraschung entwickelten sich die Tiere normal, zu liebevollen Partnern und umsichtigen Eltern. Waren vier Jahrzehnte Oxytocin-Hype ein Irrtum? Es gibt mögliche Erklärungen: Alternativen springen ein, die in der DNA ersatzweise angelegt sind. Warum funktioniert das nicht bei normalen Mäusen? Weil die Fähigkeit artspezifisch ist, oder weil sie Opfer der Inzucht im Labor sind. Und die Wirkstoffe? Bei denen sei ja nie klar, wie sie molekulare Abläufe ändern. Man denke an die unerfüllten Hoffnungen, mit Oxytocin ließen sich soziale Defizite heilen, etwa bei Autisten.
Solche Demut der Forscher hat populäre Medien freilich nie daran gehindert, mentale Zustände mit einem einheitlichen biologischen Phänomen gleichzusetzen. Da heißt es dann: Im Hirn hat man die Empathie „gefunden“, oder den Hass. Oder: Liebe „ist“nichts anderes als das Wirken von Oxytocin. Wer hat uns diesen Kurzschluss anerzogen? Nicht schlampige Journalisten, sondern naturwissenschaftlich orientierte Philosophen.
Der Schmerz und die C-Fasern
Ab den 1950er-Jahren wollten die angelsächsischen Denker der analytischen Schule das Leib-Seele-Problem aus der Welt schaffen. Dieses lästige Rätsel: Wir glauben zwar im Alltag, dass mentale Zustände körperliche verursachen (wenn ich die Hand heben will, steigt sie in die Höhe). Aber wie soll das gehen, wo uns die Physik doch lehre, dass die materielle Welt kausal geschlossen ist, also jedes physische Ereignis eine physische Ursache hat? Es galt, den verstaubten Dualismus von Descartes – Geist und Materie seien verschiedene Substanzen – endgültig sturmreif zu schießen. Das ist zwar bis heute nicht ganz gelungen, hat uns aber eine der niveauvollsten und ergiebigsten Debatten in der Geschichte der Philosophie beschert.
Nur war der erste Versuch einer Antwort zu simpel: die Identitätstheorie, wonach jeder Gedanke und jedes Gefühl mit einem bestimmten Typ von Hirnzuständen identisch sei. Dann wäre das Mentale auf das Physische reduziert, so wie unsere Begriffswelt von Wasser auf die Formel H2O. Mentales kann Physisches dann ruhig beeinflussen, weil es ohnehin ein und dasselbe ist. Das beliebte Beispiel war: Schmerz ist nichts anderes als das Feuern von C-Nervenfasern. Der erste Einwand war ein empirischer, und er erinnert ein wenig an die neue Entdeckung zum Oxytocin: Viele Tierarten haben gar keine C-Fasern. Will jemand behaupten, sie würden keinen Schmerz empfinden?
Damit begann das Rückzugsgefecht: Das mit der Identität gelte eben nur artspezifisch. Aber wenn wir nun einem Menschen begegnen, der sichtlich unter Schmerzen leidet und dies auch bekundet, aber bei dem eine Untersuchung ergibt, dass er keine C-Fasern im Hirn hat? Kann ihm der Arzt dann guten Gewissens sagen: „Sie irren sich, Sie haben gar keine Schmerzen“? So ist die Debatte rasch bei den alten Argumenten von Descartes gelandet, nur in neuem logischen Gewand: Die wesentliche Eigenschaft von Schmerz ist, dass er sich scheußlich anfühlt. Bei C-Fasern geht es um etwas anderes, etwa ihre Form oder ihre Art des Feuerns. Und was unterschiedliche Eigenschaften hat, kann nicht numerisch identisch sein.
Wohlgemerkt: Es gibt bis heute Philosophen, die diese Identitätstheorie vertreten. Und wohl weit mehr Naturwissenschaftler, die ihr implizit anhängen. Aber schon wegen der empirischen Schwierigkeiten, auf die man mit simplen Gleichsetzungen stößt, darf die konträre Intuition auf absehbare Zeit weiter bestehen: Was wir Liebe nennen, ist mehr als das Wirken von Oxytocin.