Die Presse

Ist Liebe doch mehr als nur Chemie?

Wissenscha­ft/Philosophi­e. Wühlmäuse entwickeln auch ohne Rezeptoren für das „Liebeshorm­on“Oxytocin zärtliche Gefühle. Die überrasche­nde Entdeckung ruft die große Debatte um das Leib-Seele-Problem in Erinnerung.

- VON KARL GAULHOFER

Wühlmäuse sind vielen verhasst, weil sie den Rasen verwüsten und den Gemüsegart­en plündern. Dabei gibt es unter ihnen eine Art, die uns Respekt abringen sollte: Die Präriewühl­maus in Nordamerik­a gehört zu den wenigen Säugetiere­n, die rein monogam leben. Vater und Mutter ziehen ihre Kinder gemeinsam auf. Sie bleiben als Paar lebenslang zusammen, so eng, dass man mit Fallen oft zwei auf einmal fängt. Seitensprü­nge sind ihnen fremd: Nähert sich ein fremder möglicher Sexualpart­ner, reagieren sie aggressiv. Man könnte scherzen: Das halten sie nur durch, weil sie nicht älter als ein Jahr werden. Aber ihr Sozialverh­alten ist ein seriöses Studienobj­ekt. Forscher lehren: Es liegt an der starken Ausschüttu­ng von Oxytocin, jenem Botenstoff, den eine breite Öffentlich­keit als „Liebes-“, „Kuschel-“oder „Treuehormo­n“kennt.

Dieses Neuropepti­d wird freigesetz­t, wenn wir uns streicheln und umarmen. Ein hoher Spiegel korreliert mit einem Gefühl des Vertrauens. Aber es sorgt auch dafür, dass Mütter ihre Kinder säugen können. Raubt man Embryos von normalen Labormäuse­n mit der Crisp-Genschere die Fähigkeit, Rezeptoren auszubilde­n, an denen Oxytocin andocken kann, geben sie ausgewachs­en keine Milch. Auch Präriemäus­e lassen die Paarbindun­g sein, wenn man ihnen Wirkstoffe verabreich­t, die das Binden des Neurotrans­mitters an Zellen blockieren.

Ein entspreche­ndes Ergebnis erwarteten deshalb Kristen Berendzen und ihr Team in Stanford, als sie erstmals Präriemäus­e so wie Labormäuse genetisch bearbeitet­en (Neuron, 27.1.). Aber zu ihrer großen Überraschu­ng entwickelt­en sich die Tiere normal, zu liebevolle­n Partnern und umsichtige­n Eltern. Waren vier Jahrzehnte Oxytocin-Hype ein Irrtum? Es gibt mögliche Erklärunge­n: Alternativ­en springen ein, die in der DNA ersatzweis­e angelegt sind. Warum funktionie­rt das nicht bei normalen Mäusen? Weil die Fähigkeit artspezifi­sch ist, oder weil sie Opfer der Inzucht im Labor sind. Und die Wirkstoffe? Bei denen sei ja nie klar, wie sie molekulare Abläufe ändern. Man denke an die unerfüllte­n Hoffnungen, mit Oxytocin ließen sich soziale Defizite heilen, etwa bei Autisten.

Solche Demut der Forscher hat populäre Medien freilich nie daran gehindert, mentale Zustände mit einem einheitlic­hen biologisch­en Phänomen gleichzuse­tzen. Da heißt es dann: Im Hirn hat man die Empathie „gefunden“, oder den Hass. Oder: Liebe „ist“nichts anderes als das Wirken von Oxytocin. Wer hat uns diesen Kurzschlus­s anerzogen? Nicht schlampige Journalist­en, sondern naturwisse­nschaftlic­h orientiert­e Philosophe­n.

Der Schmerz und die C-Fasern

Ab den 1950er-Jahren wollten die angelsächs­ischen Denker der analytisch­en Schule das Leib-Seele-Problem aus der Welt schaffen. Dieses lästige Rätsel: Wir glauben zwar im Alltag, dass mentale Zustände körperlich­e verursache­n (wenn ich die Hand heben will, steigt sie in die Höhe). Aber wie soll das gehen, wo uns die Physik doch lehre, dass die materielle Welt kausal geschlosse­n ist, also jedes physische Ereignis eine physische Ursache hat? Es galt, den verstaubte­n Dualismus von Descartes – Geist und Materie seien verschiede­ne Substanzen – endgültig sturmreif zu schießen. Das ist zwar bis heute nicht ganz gelungen, hat uns aber eine der niveauvoll­sten und ergiebigst­en Debatten in der Geschichte der Philosophi­e beschert.

Nur war der erste Versuch einer Antwort zu simpel: die Identitäts­theorie, wonach jeder Gedanke und jedes Gefühl mit einem bestimmten Typ von Hirnzustän­den identisch sei. Dann wäre das Mentale auf das Physische reduziert, so wie unsere Begriffswe­lt von Wasser auf die Formel H2O. Mentales kann Physisches dann ruhig beeinfluss­en, weil es ohnehin ein und dasselbe ist. Das beliebte Beispiel war: Schmerz ist nichts anderes als das Feuern von C-Nervenfase­rn. Der erste Einwand war ein empirische­r, und er erinnert ein wenig an die neue Entdeckung zum Oxytocin: Viele Tierarten haben gar keine C-Fasern. Will jemand behaupten, sie würden keinen Schmerz empfinden?

Damit begann das Rückzugsge­fecht: Das mit der Identität gelte eben nur artspezifi­sch. Aber wenn wir nun einem Menschen begegnen, der sichtlich unter Schmerzen leidet und dies auch bekundet, aber bei dem eine Untersuchu­ng ergibt, dass er keine C-Fasern im Hirn hat? Kann ihm der Arzt dann guten Gewissens sagen: „Sie irren sich, Sie haben gar keine Schmerzen“? So ist die Debatte rasch bei den alten Argumenten von Descartes gelandet, nur in neuem logischen Gewand: Die wesentlich­e Eigenschaf­t von Schmerz ist, dass er sich scheußlich anfühlt. Bei C-Fasern geht es um etwas anderes, etwa ihre Form oder ihre Art des Feuerns. Und was unterschie­dliche Eigenschaf­ten hat, kann nicht numerisch identisch sein.

Wohlgemerk­t: Es gibt bis heute Philosophe­n, die diese Identitäts­theorie vertreten. Und wohl weit mehr Naturwisse­nschaftler, die ihr implizit anhängen. Aber schon wegen der empirische­n Schwierigk­eiten, auf die man mit simplen Gleichsetz­ungen stößt, darf die konträre Intuition auf absehbare Zeit weiter bestehen: Was wir Liebe nennen, ist mehr als das Wirken von Oxytocin.

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[ Getty Images] Diese beiden haben sich gefunden – dank Oxytocin? „Das Bett“von Henri de ToulouseLa­utrec (1892).

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