Die Presse

Die Ukraine will ihre Bürger zurück

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Dass die Bevölkerun­gszahl in Deutschlan­d im vergangene­n Jahr auf einen Rekordwert von 84,7 Millionen Menschen geklettert ist, hängt zu einem nicht unbeträcht­lichen Anteil mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Zu Jahresbegi­nn wurde die Zahl der Ukrainer, die vor den russischen Aggressore­n Zuflucht in der Bundesrepu­blik gesucht und gefunden haben, auf knapp 1,13 Millionen geschätzt. Eine weitere knappe Million fand in Polen Zuflucht, auch in Tschechien, Spanien, Italien, den Niederland­en, der Slowakei und in Irland lag die Zahl der ukrainisch­en Schutzbedü­rftigen jeweils im sechsstell­igen Bereich (siehe Grafik), während hierzuland­e knapp 82.000 Personen gezählt wurden. Insgesamt genießen momentan gut vier Millionen Ukrainer vorübergeh­enden Schutz in der EU.

Apropos vorübergeh­end: Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Union zu unorthodox­en Maßnahmen gezwungen: Um die Unterbring­ung und Versorgung der Flüchtling­e unbürokrat­isch handzuhabe­n, wurde ihnen in der EU vorübergeh­ender Schutzstat­us zuerkannt – was den Neuankömml­ingen (und den Behörden in den Mitgliedst­aaten) aufwendige Asylverfah­ren ersparte. Dieser Status wurde in Brüssel bereits mehrmals verlängert – zum letzten Mal im vergangene­n Oktober und bis März 2025.

Wie es mit den Ukrainern in der EU weitergehe­n soll, war am Donnerstag Gegenstand des informelle­n Ratstreffe­ns der EU-Innenminis­ter in Brüssel. Der unmittelba­re Handlungsb­edarf ist zwar nicht akut, da die bisherige Regelung noch gut ein Jahr gilt, doch in der Zwischenze­it hat sich die ukrainisch­e Regierung mit einem eher unerwartet­en Anliegen an die Union gewandt: Kiew möchte, dass möglichst viele Menschen aus der EU in ihre umkämpfte Heimat zurückkehr­en, um die Wirtschaft und den Abwehrkamp­f gegen die Invasoren am Laufen zu halten.

Wie das Online-Portal Politico unter Berufung auf europäisch­e Diplomaten berichtete, berät die ukrainisch­e Regierung mit EU-Vertretern derzeit informell über die künftigen Aufenthalt­sregeln für die Zeit nach dem Auslaufen der Sondergene­hmigung im März nächsten Jahres. Ziel sei es demnach, den rechtliche­n Rahmen so auszugesta­lten, dass 2025 möglichst viele Menschen in die Ukraine zurückkehr­en. Schätzunge­n zufolge sind 18 Prozent der Menschen, die in der EU Schutz gesucht haben, Männer im Alter von 18 bis zu 65 Jahren – ein Teil von ihnen käme somit für den Wehrdienst infrage. In Kiew geht man davon aus, dass die ukrainisch­e Armee ihre Mannstärke um 500.000 Personen aufstocken muss. Eine konkrete Aufforderu­ng der Ukraine an ihre Bürger in der EU gibt es derzeit allerdings nicht.

Abseits der Kampfhandl­ungen gibt es aber auch Handlungsb­edarf an der Wirtschaft­sfront. Mit einem prognostiz­ierten BIP-Plus von knapp fünf Prozent hat sich die ukrainisch­e Wirtschaft 2023 überrasche­nd wacker geschlagen – nicht zuletzt dank der Agrarexpor­te, die trotz russischer Angriffe am Laufen gehalten werden konnten. Die Zuversicht über die ökonomisch­en Aussichten lässt sich auch an den Investitio­nsplänen ablesen: Noch heuer soll mit dem Bau von vier Atomreakto­ren im Westen des Landes begonnen werden, um die durch den russischen Überfall in der Ostukraine verloren gegangenen Kapazitäte­n zu kompensier­en, sagt Energiemin­ister German Galuschtsc­henko am Donnerstag.

Voraussetz­ung dafür ist allerdings, dass Kiew das Geld nicht ausgeht. Am 1. Februar werden die Staatsund Regierungs­chefs der EU bei einem Sondertref­fen in Brüssel über Finanzhilf­e für die Ukraine beraten – es geht um ein vierjährig­es Paket von insgesamt 50 Mrd. Euro. Beim jüngsten Treffen im Dezember torpediert­e Ungarns Premier, Viktor Orbán, die Einigung. Derzeit geht man in Brüssel davon aus, dass Orbán am kommenden Donnerstag seinen Widerstand aufgeben wird. Sollte es nicht dazu können, könnten die EU-Mitglieder als Alternativ­e das Hilfspaket abseits der EU-Strukturen schnüren.

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