Ein westliches Dilemma
Sollen die westlichen Staaten eine moralische Identitätspolitik verfolgen oder einer realpolitischen Diplomatie nachgehen?
Die Diplomatie ist wohl eines der bedeutendsten Instrumente eines Staates, um die eigenen Interessen friedlich zu verfolgen und idealerweise durchzusetzen. Im Fall der aktuellen westlichen Diplomatie gelangt man hierbei jedoch in eine zwieträchtige Situation.
Es stellt sich die Frage für ein Land, ob man eine moralische Identitätspolitik verfolgen soll, die die liberalen demokratischen Werte als höchste Priorität ansieht, wie es beispielsweise die deutsche Außenministerin, Annalena Baerbock, betont. Andernfalls kann einer realpolitischen Diplomatie nachgegangen werden, um in Zeiten der globalen Interdependenzen nicht unterzugehen. Die derzeitige Diplomatie des Westens zeigt ein unklares Bild, bei dem sich die Marschrichtung nicht eindeutig definieren lässt. Grund dafür ist die Kombination beider Ausrichtungen, die auf Dauer eine Gefahr mit sich bringt.
Keine eindeutige Ausrichtung
Vor mehr als einem Jahr war die öffentliche Aufregung groß, als einzelne Regierungsmitglieder per Privatjet nach Abu Dhabi reisten, um die sogenannte Energieversorgungssicherheit Österreichs für den Winter 2023/2024 zu bewahren. Ausgerechnet eine grüne Ministerin, nämlich Leonore Gewessler, war Teil dieses umstrittenen Projekts. Die Ursache für diese Aufregung lag darin, dass in einem Land, das bekanntlich keinen großen Wert auf Menschenrechte legt, nicht erneuerbare Energieträger erworben wurden.
Der eigentliche Vorwurf der Doppelmoral bezog sich darauf, wie diese Handlung argumentiert wurde. Laut Regierung versuchte man sich dadurch von der russischen Abhängigkeit in der Energiefrage zu lösen, da man als neutrales Land die Sanktionen gegen Russland mittrug. Somit verfolgte das politische Establishment Österreichs in diesem Fall realpolitische Interessen, nachdem man zuvor u. a. aus moralischen Gründen an den Sanktionen gegen Russland teilgenommen hatte.
Auch der Blick nach Deutschland verdeutlicht dieses Phänomen. Die deutsche Bundesregierung hat unlängst die Genehmigung für die Lieferung von Eurofightern nach Saudiarabien bekannt gegeben, die aufgrund der Menschenrechtslage im Königreich ebenfalls auf Kritik stößt. Der Hintergrund der Lieferung ist, dass Saudiarabien den Kampf gegen die Houthi-Rebellen im Jemen aufnehme und somit eine militärische Entlastung für Israel und eine Wiederherstellung der Sicherheit für die Welthandelsroute durch den wichtigen Suezkanal erhofft wird.
Dilemma im Nahost-Konflikt
Die Position Deutschlands im Nahost-Konflikt schwankt ebenso, denn die Bundesrepublik hat sich zwar für eine bedingungslose Solidarität mit Israel ausgesprochen. Bei der UN-Vollversammlung bezüglich der Waffenruhe im Gazastreifen hat sich Deutschland dennoch seiner Stimme enthalten. Bedingungslose Solidarität sieht anders aus.
Die USA scheinen ebenfalls in einen Zwiespalt zu geraten, wenn man dem derzeitigen hitzigen Austausch zwischen dem US-Außenminister, Blinken, und der israelischen Regierung Glauben schenken mag. Die USA fordern Israel nun auf, die humanitäre Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu beachten. Die bündnisähnliche Unterstützung seitens der USA für Israel befindet sich offenbar in einem Umbruch.
Dieses „Dilemma“ist eine neue Form der diplomatischen Krise der westlichen Welt. Die unentschlossene Auslegung der Diplomatik ist ein Spiel mit dem Feuer, das eine große Gefahr mit sich bringt: nämlich den Verlust der Glaubwürdigkeit sowohl bei anderen Staaten als auch bei der eigenen Bevölkerung.