Ein juristisches Remis in Den Haag Salomonischer einstweiliger Richterspruch des Internationalen Gerichtshofs in der Völkermordklage gegen Israel: Besserer Schutz der Zivilisten, aber kein Ende des Gaza-Krieges.
Am Ende durften sich alle ein wenig als Sieger fühlen – zugleich aber auch als Verlierer. Weder Israel noch Südafrika bekamen zu 100 Prozent recht im einstweiligen salomonischen Richterspruch des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag zur Völkermordanklage im Gaza-Krieg. Vor dem Friedenspalast, dem Sitz des UN-Gerichts in der niederländischen Regierungszentrale, hatten sich am Freitag vor allem propalästinensische Demonstranten eingefunden, unter anderem die neuerdings von der Klimaaktivistin zur Nahost-Aktivistin mutierte Greta Thunberg.
Der palästinensische Außenminister und Naledi Pandor, seine eigens in die Niederlande eingeflogene südafrikanische Kollegin, sahen sich moralisch bestätigt. Das Gericht unter Vorsitz der US-Amerikanerin Joan Donoghue hatte mit einem überwältigenden Votum den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung angesichts einer „katastrophalen humanitären Lage“angemahnt. Es forderte Israel dazu auf, einen Völkermord zu verhüten. Und es wies den laut der Verteidigung „obszönen“Einwand einer Völkermordklage ab. Südafrika habe „einige plausible“Gründe vorgebracht. Nelson Mandela, der südafrikanische Säulenheilige, lächle in seinem Grab, sagte Ronald Lamola, der südafrikanische Justizminister in Pretoria.
Doch auch Israel quittierte den Richterspruch mit Genugtuung und Erleichterung. Die im Vorfeld befürchtete Empfehlung zur Einstellung der Kampfhandlungen ist ausgeblieben. Donoghue verurteilte namens des Gerichts ausdrücklich das Hamas-Massaker am 7. Oktober. Die Richter forderten die Freilassung der Geiseln in der Gewalt der Terrorgruppe, und es anerkannte das Recht Israels auf Selbstverteidigung. Ganz zufrieden war Benjamin Netanjahu indes nicht. Es sei eine „Schande“, dass sich der Internationale Gerichtshof überhaupt mit dem Genozid-Vorwurf beschäftige, betonte Israels Premier am Vortag des Holocaust-Gedenktags.
Israel hatte sich für den Tag der Verkündigung des vorläufigen Urteils rund zwei Wochen nach Beginn des Verfahrens allerdings noch einen Konter gegen die ungeliebte UNO zurechtgelegt. Nicht nur veröffentlichte die Regierung Dokumente, die belegen sollen, dass die führenden Akteure des Kriegskabinetts und des Militärs sehr wohl den Schutz der Zivilisten ins Kalkül ziehen. Israel erhob auch den gravierenden Vorwurf gegen das UN-Hilfswerk für die Palästinenser, dass sich rund ein Dutzend Mitarbeiter am Terrorangriff des 7. Oktober beteiligt hätte. Das traf einen Nerv, tun sich die Vereinten Nationen doch als dezidierter Kritiker Israels hervor.
Optimismus, womöglich auch nur Zweckoptimismus, verbreitete
David Cameron nach einer IsraelVisite. Der britische Außenminister monierte zwar die nur schleichende Hilfe für die Palästinenser, etwa die Öffnung des israelischen Hafens Ashdod für Hilfslieferungen aus Zypern für den Gazastreifen. Er konstatierte indes Fortschritte für einen neuen Geiseldeal.
Tatsächlich haben sich die Verhandler auf den Weg an einen – vorerst – geheimen Ort in Europa gemacht, um womöglich die letzten Details für einen Austausch zwischen Hamas-Geiseln gegen palästinensische Häftlinge zu klären und die letzten Hürden zu beseitigen. CIA-Chef William Burns und Mossad-Chef David Barnea sollen bereits am Wochenende mit Mohammed ben Abdelrahmane al-Thani, dem Premier von Katar, und Abbas Kamel, dem ägyptischen Geheimdienstchef, zusammenkommen.
Die Konstellation erinnert an die Situation vor zehn Wochen, als die vier Vermittler in Doha eine einwöchige Feuerpause und die Freilassung von mehr als 100 Geiseln ausverhandelten. Thani reist danach weiter nach Washington – auch ein Indiz, dass ein Abkommen bevorstehen könnte. Israel bot gegen die Freilassung aller Geiseln – nach israelischen Angaben wohl nur noch knapp mehr als 100 – eine Waffenruhe von bis zu zwei Monaten an.
Eine Entscheidung über die Völkermordklage Südafrikas durch den Internationalen Gerichtshof wird erst in einigen Jahren fallen. Die Beziehungen zwischen Israel und Südafrika sind indes an einem Tiefpunkt angelangt. El Al, die israelische Fluglinie, hat bis Ende März alle Flüge nach Johannesberg eingestellt. US-Außenminister Antony Blinken versucht sich derweil als Schlichter.