Leere Artikel-7-Drohung gegen Orbán Um Ungarns Veto gegen 50 Milliarden Euro Budgethilfe für die Ukraine zu biegen, wird über einen Entzug seiner Stimmrechte im Rat spekuliert. Das ist jedoch unrealistisch.
Namentlich zitieren lassen wollte sich keiner der Diplomaten. Denn ihre Wortspenden an das Nachrichtenmagazin „Politico“sind politischer Zündstoff. „Wenn Orbán wirklich erneut eine Übereinkunft beim Februar-Gipfel blockiert, würde es zu einer echten Option werden, Artikel 7 zu verwenden, um Ungarn die Stimmrechte zu entziehen“, sagte einer von ihnen.
Die Übereinkunft, auf die hier angespielt wird, betrifft die von Ungarn blockierte Aufstockung des Unionshaushaltes für die restlichen Jahre der laufenden Finanzperiode 2021–2027 um 50 Milliarden Euro. Wie in allen Fragen, die den Unionshaushalt betreffen, gilt aber auch hier das Prinzip der Einstimmigkeit. Und so verweigerte der moskautreue ungarische Ministerpräsident, Viktor Orbán, beim Europäischen Rat Mitte Dezember seine politische Zustimmung. Die Zeit drängt. Orbán doch zum Einlenken zu bringen, beschäftigt die Spitzen der EU vor dem eigens zur Verhandlung des EU-Budgets einberufenen Europäischen Ratstreffen am 1. Februar.
Ein Ansatz ist es, ihn zu umschmeicheln. Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, lud Orbán deshalb Anfang Dezember zum Abendessen in den Élysée-Palast. Gefruchtet hat diese Charmeoffensive jedoch wenig, wie das Nein des Ungarn eine Woche später in Brüssel veranschaulichte.
Der andere Ansatz, den manche Regierungen zusehends konkreter ins Auge zu fassen scheinen, liegt im Drohen. Womit die eingangs erwähnte Spekulation über eine Scharfstellung des Verfahrens zum Entzug der Stimmrechte im Rat nach Artikel 7 des EU-Vertrages ins Spiel kommt. Dieser Artikel besagt, dass in einem ersten Schritt der Rat, also das Entscheidungsgremium der Mitgliedstaaten, mit einer Mehrheit von 80 Prozent und unter Zustimmung des Europaparlaments formal festhalten kann, dass in einem Mitgliedstaat „eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“der Grundwerte der EU bestehe. Diese Grundwerte sind in Artikel 2 aufgezählt: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.
Hier liegt jedoch das Grundproblem der Idee, man könnte Orbán mit der Artikel-7-Drohung zur Aufgabe seines Vetos zwingen. Denn wie stellt es eine „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“der Grundwerte der EU dar, wenn ein Mitgliedstaat die Erhöhung des Unionsbudgets ablehnt? Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Orbán unter großem Getöse des von ihm politisch gleichgeschalteten ungarischen Medienapparates den Mythos vom ewigen Opfer Ungarn inszeniert. Viereinhalb Monate vor der Europawahl am 9. Juni wäre das ein Geschenk für seine Propagandisten.
Auf dieses in rechtlicher Hinsicht hauchdünne Eis will sich kein Mitgliedstaat begeben. Juristisch solidere Gründe dafür gäbe es zahlreiche, wie die grassierende politische Korruption oder die systematische Schikanierung von Minderheiten und der politischen Opposition veranschaulichen. Doch den anderen Regierungen in der EU fehlt es selbst dazu an politischem Mut.
Vorige Woche erklärte die belgische Außenministerin, Hadja Lahbib, dass während des EU-Ratsvorsitzes Belgiens (also bis Ende Juni) nichts in dieser Sache unternommen werden wird. „Wir sind uns des Rechtsrahmens sehr gut bewusst, den es für das Handeln des Rats unter Artikel 7 gibt“, sagte sie. In der Praxis aber „werden gute Zusammenarbeit, politischer Wille und Hingabe all dieser Institutionen benötigt“. Zudem sei die verbleibende Zeit bis zur Europawahl „sehr kurz“.
Insofern laufen Überlegungen darüber ins Leere, wie sich die einstimmige Entscheidung des Europäischen Rates konstruieren ließe, die „schwerwiegende und anhaltende Verletzung“der EU-Grundwerte in Ungarn festzuhalten. Orbán benötigt nur einen anderen Staats- oder Regierungschef, der ihm die Mauer macht. Aktuell wäre das wohl der slowakische Ministerpräsident, Robert Fico. Doch wie Belgiens Außenministerin sagte: So weit wird es nicht kommen.
Realistischer ist jene Lösung, die der lettische Präsident, Edgars Rinkēvičs, am Freitag gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg News andeutete: Wenn Orbán sich weigert, konstruieren die 26 anderen Mitgliedstaaten entweder ein Finanzvehikel, um der Ukraine die 50 Milliarden Euro außerhalb des EU-Budgets bereitzustellen. Oder aber sie arrangieren eine Ratenzahlung mit regelmäßigen Überprüfungen der Mittelverwendung. So etwas Ähnliches fordert Orbán seit Dezember – und er könnte damit sein Gesicht wahren.