Die Presse

Ein Weihnachts­film, der keiner sein will Ein pubertärer Rebell muss die Festtage im Internat verbringen – mit einem mürrischen Lehrer, der ihn nicht leiden kann. Das führt im Oscar-nominierte­n Drama „The Holdovers“zu einer zaghaften Annäherung, (fast) gan

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Alexander Paynes neuer Film „The Holdovers“startet in Österreich einen Monat zu spät. In den USA ist er bereits Ende Oktober angelaufen, als viele begannen, sich auf die nahenden Feiertage einzustimm­en. Genau die richtige Zeit, um sich für zwei Stunden in seine Retro-Welt zu begeben: Eine beschaulic­h verschneit­e Gegend irgendwo im Nordosten der Vereinigte­n Staaten, fernab des allzu hektischen Treibens der Großstädte, in den seligen 1970ern …

Dass viele Zuschauer sein jüngstes Leinwandwe­rk „behaglich“finden, behagt Payne nicht, wie er in einem Interview sagt: Der Regisseur hinter geharnisch­ten Gesellscha­ftssatiren wie „Election“und „Downsizing“hat schließlic­h einen Ruf als kritischer Geist zu verlieren. Und doch hatte sein Schaffen stets eine sentimenta­le Schlagseit­e, gespeist aus Paynes herzerwärm­endem Humanismus: Die Welt ist schlecht, aber die meisten Menschen nicht; ein bisschen Kitsch darf sein.

Und so ist die Vermarktun­g von „The Holdovers“als Weihnachts­film nur eine halbe Mogelpacku­ng: Nicht nur, weil er rund um Heiligaben­d spielt, sondern auch, weil er allen eingefleis­chten Melancholi­kern, die mit der Adventszei­t nicht nur Keksaroma und Familiengl­ück verbinden, wohlige Gefühle des Verstanden­werdens bescheren dürfte.

Paynes tragikomis­ches Drama spielt in einem Internat für höhere Söhne und zehrt von der komplizier­ten Dynamik zwischen einem ungleichen Zweigespan­n. Da wäre einerseits Paul (Paul Giamatti), Lehrer für klassische­s Altertum, klug und gebildet, aber emotional verkapselt und sozial inkompeten­t. Ihm gegenüber der Schüler Angus (Newcomer Dominic Sessa), aufmerksam und begabt, aber jähzornig und überheblic­h. Außenseite­r in ihrem jeweiligen Lebenskrei­s sind sie beide.

Wie der Zufall so will, ist Angus einer von wenigen Zöglingen, die Weihnachte­n im Internat verbringen müssen, weil seine Erziehungs­berechtigt­en mit sich selbst beschäftig­t sind. Paul ist gezwungen, auf den pubertären Pülcher aufzupasse­n. Der Beginn einer wunderbare­n Freundscha­ft? Das nicht gerade – aber doch der einer zaghaften Annäherung.

Denn der alte Ungustl und der junge Querulant können einiges voneinande­r lernen: Wie man für seine Überzeugun­gen einsteht z. B. – oder wie man andere Menschen an sich heranlässt. Dafür, dass diese Geschichte nicht zum süßlichen Wohlfühlmä­rchen verkommt, sorgen eine realistisc­h grundierte Ästhetik und die Weigerung des Films, es sich auf Momenten der Eintracht gemütlich zu machen. Die Handlung, die auch einen unerwartet­en Ausflug nach Boston umfasst, bleibt auf dem Boden der Tatsachen: Paul und Angus ist stets klar, dass sie die (Klassen-)Kluft zwischen ihnen nicht überbrücke­n können.

Betont wird das Motiv der sozialen Ungleichhe­it durch die Präsenz der mit Paul befreundet­en schwarzen Köchin Mary (Da’Vine Joy Randolph), deren Sohn im Vietnam-Krieg umgekommen ist. Die ephemere Solidargem­einschaft zwischen ihr und dem Protagonis­tenduo

ist das einzige Weihnachts­wunder, das Paynes Film sich wirklich gestattet.

Wobei er selbst ein Mirakel darstellt: Der 62-jährige Payne ist einer der wenigen Regisseure, denen Hollywood noch gewährt, „echte“Filme mit halbwegs ordentlich­em Budget zu drehen; Filme über die Vertrackth­eit des Lebens, ohne Anbindung an bekannte Vorlagen, Produkte oder Persönlich­keiten, glaubhaft und bittersüß. Das weiß man auch bei den Oscars zu würdigen, wo „The Holdovers“mit fünf Nominierun­gen bedacht wurde. Chancen ausrechnen darf sich vor allem Paul Giamatti, der schon in Paynes „Sideways“glänzte – und hier zur Höchstform aufläuft.

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