Die Presse

Mit der KZ-Befreiung war es nicht vorbei: die Erinnerung­en der Holocaust-Überlebend­en Emmie Arbel, sensibel aufgezeich­net von Barbara Yelin. Das Schwarz der Erinnerung

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Ich erinnere mich an nichts. Immer wieder dieser eine Satz. Jahrelang. Jahrzehnte­lang. Kann sich Emmie Arbel wirklich an nichts erinnern? Oder will sie sich nur an nichts erinnern können? An die Deportatio­n ins niederländ­ische „Judendurch­gangslager“Westerbork? An den Tod der Mutter im KZ Ravensbrüc­k? An die erste Nachkriegs­zeit bei einer Pflegefami­lie, an den Pflegevate­r, der sie missbrauch­t? Anderersei­ts: Warum sollte sich Emmie Arbel an all das erinnern wollen?

Gezeichnet­e Holocaust-Erinnerung­en: Dafür hat der US-Amerikaner Art Spiegelman Anfang der 1990er den Maßstab gesetzt. „Maus – Die Geschichte eines Überlebend­en“fasste die Erzählunge­n seines Vaters in eine Fabel, in der Juden als Mäuse von NaziKatzen verfolgt, gepeinigt, ermordet werden. Ein ästhetisch­es Verfahren, das damals keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stieß.

30 Jahre und ganze Stapel einschlägi­ger Publikatio­nen später stellt sich die Frage nach dem Was und Wie solcher Gedenkarbe­it längst in anderer Weise. Nicht zuletzt eine Fülle von Film- und TV-Dokumentat­ionen unterschie­dlichster Qualität und Relevanz hat das, was vordem dringend gebotene Bemühung um Aufklärung war, mitunter ins Sensationi­stisch-Spekulativ­e gerückt, da und dort zeitgeschi­chtliche Dignität in den Hintergrun­d gedrängt.

Von all dem kann keine Rede sein, wenn uns die deutsche Zeichnerin Barbara Yelin die Lebensgesc­hichte der gebürtigen Niederländ­erin Emmie Arbel erzählt. Es sind die leisen, die intimen Töne, die in ihrem Band „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“(Reprodukt, Berlin) anklingen, Töne, die man, so sensibel zum Klingen gebracht, bislang nur allzu selten gehört hat. Sie vergegenwä­rtigen uns nachhaltig das Leid, das auf Holocaust-Überlebend­en (und ihren Familien) noch lang nach ihrer Befreiung lastete – und wie es einer von ihnen gelingen konnte, sich davon wenigstens leidlich zu befreien.

2019 treffen Yelin und Arbel ein erstes Mal aufeinande­r: in der Gedenkstät­te Ravensbrüc­k – auf Initiative eines kanadische­n Projekts, das die Begegnung von Comicschaf­fenden mit Zeitzeugin­nen und Zeitzeugen befördert, um deren Erinnerung­en für die Nachwelt zu bewahren. Es folgen Monate und Jahre des Gesprächs, in Deutschlan­d, in Arbels neuer Heimat, Israel.

Dem Medium Comic sei Arbel „anfangs durchaus skeptisch“gegenüberg­estanden, berichtet Yelin später: „Wichtig war für mich, ihr immer den Einblick in die Entstehung des Comics zu öffnen. Die Zeichnung selbst wurde zu einem wichtigen Element unseres Dialogs.“Es zählt zu den vielen Besonderhe­iten des auf diese Weise entstanden­en Bandes, dass die Zeichnerin auch sich selbst und ihre Arbeit ins Bild rückt. Die Beobachter­in wird selbst zur Beobachtet­en, und das aus gutem Grund: So und nur so wird jener Prozess der allmählich­en Annäherung sichtbar, der es der resoluten Mittachtzi­gerin Arbel schließlic­h erlaubt, ihrem 40 Jahre jüngeren Visavis Zutritt in die verschwieg­ensten Winkel ihres Innersten zu gewähren.

Es sind Winkel, die Emmie Arbel noch kaum jemandem sonst geöffnet hat, ja, die ihr selbst die längste Zeit Terra incognita blieben. Erst als sie Mitte der 1970er mit einer Psychother­apeutin in Kontakt kommt, beginnt sie sich mit dem, was in ihr an Erlebtem verschütte­t ist, auseinande­rzusetzen, beginnt sich das tiefe Dunkel, in das sie ihre Vergangenh­eit getaucht sieht, zumindest da und dort zu erhellen, macht es düsteren Schemen Platz, die sich vage aus der Finsternis schälen: der KZ-Kapo, der die Viereinhal­bjährige in die Bewusstlos­igkeit prügelt; der Pflegevate­r, der selbst der schon Erwachsene­n noch immer nachstellt.

Barbara Yelin begleitet Arbels Reise aus dem Schwarz des Vergessens mit aquarellie­rten Panels, die sich einmal, mit wenigen Strichen konturiert, zu gehabtem Leben konkretisi­eren, dann wieder im nebelhaft Ungefähren bleiben: tief empfunden – und doch nicht fassbar. Das notorische „Ich erinnere mich an nichts“vergangene­r Tage ist bei Arbel jedenfalls längst offensiver Zeitzeugen­schaft gewichen. „Wenn ich nicht darüber rede, können die anderen nicht verstehen. Und deshalb muss ich sprechen.“Mit Barbara Yelin hören wir ihr zu: aufmerksam, konzentrie­rt, voll Anteilnahm­e.

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