Holpriger Weg zur Demokratie Was ist, wenn Denkmäler aus dem Tiefschlaf erwachen? Eine spannende Publikation als Hommage an die verstorbene Historikerin Heidemarie Uhl.
Eine Welt, in der wir Heidemarie Uhl nicht um Rat fragen können, ist kaum vorstellbar“, heißt es im Nachruf der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Der überraschende, viel zu frühe Tod der Zeithistorikerin im August 2023 erschütterte. Sie war stets für Anregungen, konstruktive Kritik und Lob zu haben, auch für die Geschichteseite der „Presse“, die sie regelmäßig las. Eitelkeit und Konkurrenzgehabe kannte sie, die Teamarbeiterin, nicht, unvergesslich ihr Gesichtsausdruck, wenn man sie als „Grande Dame der österreichischen Gedächtnisforschung“bezeichnete.
Das war ihr Thema, Österreichs Geschichtspolitik mit den Schwerpunkten Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust. Es ist heute schwer vorstellbar, dass die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Wiens bis Anfang der 1980er-Jahre ein absolutes Randthema der Erinnerungspolitik war. Doch dann forderte eine neue Generation das Gedenken an die Opfer als Teil der Geschichte unseres Landes ein. Uhl stand mit ihren Arbeiten hier ganz vorn. „Gedächtnisforschung war in Österreich angekommen – angekommen, um zu bleiben“, so der Historiker Helmut Konrad.
Das OEuvre von Uhl umfasst 50 Bücher und 300 Artikel. Zu ihrem 67. Geburtstag planten ihre Wegbegleiter eine Festschrift, als Würdigung ihrer Qualitäten als Wissenschaftlerin und Mensch, es sollte eine Überraschung sein. Knapp vor der Drucklegung starb die geehrte Kollegin. Aus der Festschrift wurde ein Band „in memoriam“Heidemarie Uhl. Er ist jetzt bei Böhlau erschienen, vergangenen Mittwoch kamen alle 45 Beiträger in der Akademie der Wissenschaften zusammen, um ihn vorzustellen und an die verstorbene Kollegin zu erinnern.
Wie sich eine Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, vor allem mit ihren problematischen, traumatisierenden Aspekten, wie sie an Geschichtslügen festhält oder sie aufarbeitet, ist sicherlich eines der spannendsten Themen der Zeitgeschichte. Für ein Kind aus der bäuerlich-katholischen steirischen Provinz wie Heidemarie Uhl, das es ins Gymnasium schaffte, bedeutete der Ort der Schule eine Erfahrung des Widerspruchs. Der „Cultural Clash“lag zwischen der Darstellung der Geschichte Österreichs 1938 bis 1945 in den Schulbüchern und den Erzählungen, die sie aus dem familiären dörflichen Umfeld vermittelt bekam. Das stimmte nicht zusammen. Das machte neugierig, wie es wirklich war.
Natürlich waren die Jahre 1986 (Waldheim-Diskussion) und 1988 („Anschluss“Gedenken) Schlüsseljahre. Ab da wurde klar: Österreich kam nicht an der Auseinandersetzung mit den vielfältigen Verstrickungen in das NS-Unrechtsregime vorbei. Alte Narrative, die in Bezug auf Wien gepflegt wurden, hatten ausgedient oder mussten zumindest ergänzt werden. Sie waren zuvor durch Großausstellungen wie „Die Türken vor Wien“(1983) und „Traum und Wirklichkeit“(1985) gepflegt worden: Wien als Stadt der Türkenabwehr wurde überschrieben vom Topos der Kreativitätsrevolution des Fin de Siècle. Uhl hat die Genese des Gedächtnisortes „Wien um 1900“2005 analysiert.
Genau dazwischen lag aber, so Monika Sommer in der Festschrift, eine Schau über das von Hitler zerstörte Ostjudentum, „Versunkene Welt“(1984). Sie wurde in den Medien genutzt, um für Wien eine europäische Vorreiterrolle in der Erinnerungsarbeit zu reklamieren. Nobel hat der Organisator, Leon Zelman, es vermieden, die österreichische Mitverantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus explizit zu thematisieren. Er wollte nicht polarisieren: „Ich wollte, ich musste hier leben.“Daher kam es zu der nostalgisch-verklärenden Titelwahl. Der damalige Bundespräsident, Rudolf Kirchschläger, fand aber klare Worte: Man sollte nicht von einer versunkenen, sondern einer vernichteten Welt sprechen. Auch Hans Haider schrieb in der „Presse“von einer „im Sich-Erinnern vielleicht auch Mitschuld vergessen machenden Großunternehmung“. Ab da galt: Der nostalgische Blick zurück war zu wenig.
Eine der Kategorien der Erinnerungsorte ist die des Denkmals. Sie bringt nach Uhl „paradigmatisch die Deutungsmacht, das Festschreiben eines bestimmten Wissens über die Vergangenheit als verbindliche und normative Sinnstiftung für ein Kollektiv zum Ausdruck“. Es geht um „materielle Ausstülpungen kollektiver Erinnerung“liest man in der brillanten Analyse von Oliver Marchart. Das Vergangene ist präsent, in Form von Bildern, Bauten, Inschriften, Monumenten, in Stein gemeißelt oder in Metall gegossen.
Öffentliche Plätze sind möbliert mit den Statuen großer Helden der nationalen Erzählung. Ihre Namen sind anwesend, als Orientierungsmarken,
als Verabredungspunkte, auch wenn ihre Bedeutung dem kollektiven Gedächtnisschwund längst zum Opfer gefallen ist. Wir erinnern uns nicht, woran sie erinnern. Diese Denkmäler, so Robert Musil ironisch, „sollten sich heute, wie wir es alle tun müssen, etwas mehr anstrengen! Ruhig am Wege stehen und sich Blicke schenken lassen könnte jeder; wir dürfen heute von einem Monument mehr verlangen.“
Wann erwacht ein solches Denkmal aus der Narkose, fragt Oliver Marchart: Wenn es zum Streitfall wird. Das beste Denkmal ist nicht das Denkmal selbst, sondern die nie endende Debatte darüber. „Zum Streitfall wird es, sobald politische Akteure bislang vergessene Erinnerungen erneut in Erinnerung rufen.“Dann ist Schluss mit dem Frieden, dann ist das „Konfliktgewimmel“da. Dann erwacht es wieder zum Leben, wenn hinterfragt wird, wofür der reitende Feldherr, der antisemitische Bürgermeister stehen. „Der Blick auf die Vergangenheit ist der Blick auf uns.“
Heute heißt es in der Stadt: Denkmäler dürfen nicht angetastet werden, allerhöchstens kontextualisiert, „sprich: es wird begründet, warum sie eigentlich weg müssten, ohne sie aber schließlich wegzuräumen“, so Dirk Rupnow in seinem Beitrag zum LuegerDenkmal, für dessen „Abräumung“er eintritt, als „ein machtvolles Zeichen, das alle verstehen“. Doch auch er weiß: „Eine von allen Spuren unliebsamer Vergangenheit(en) gereinigte Stadt wird es natürlich nie geben.“
Ohne die historische Forschungsarbeit, Jurytätigkeit und Beratung von Heidemarie Uhl hätte der öffentliche Raum der Stadt Wien wohl eine andere Gestalt, so Martina Taig in ihrem Beitrag. Uhls Sachverstand war bei der Entstehung neuer Denkmäler und Erinnerungsorte gefragt. Sie wurden ein Teil der topografischen Karte Wiens, wie das „Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz am Ballhausplatz“oder das „Mahnmal Aspangbahnhof“, mit dem an die Deportation jüdischer Österreicher erinnert wurde.
Das trifft auch auf das „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“bei der Albertina, auf dem Areal des ehemaligen gründerzeitlichen Philipphofes, zu. Alfred Hrdlickas Skulptur des straßenwaschenden Juden erinnert an Ereignisse, die bis dahin im Deutschen Reich ohne vergleichbaren Präzedenzfall waren, so Helmut Wohnout in seiner Analyse: Vom „Hexensabbat des Pöbels“sprach der Augenzeuge Carl Zuckmayer. In der aufgeheizten politischen Atmosphäre nach der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten im Juni 1986 kam es zu einer großen Kontroverse, der Bildhauer Hrdlicka wurde für Teile des Bürgertums zum politischen Feindbild.
In nahezu jeder gesellschaftlichen Debatte hat Heidemarie Uhl mit historischen Analysen das Wort ergriffen. Dementsprechend vielfältig sind die Beiträge. Richard Hufschmied schreibt über das Wiener Landesgericht, wo die Nazis mit Kranzniederlegungen der exekutierten Putschisten vom Juli 1934 gedachten, Linda Erker über das Audimax der Universität Wien, eine Hinterlassenschaft des autoritären Ständestaates. Johannes Feichtinger und Johann Hess liefern eine Analyse über das sogenannte Türkenbefreiungsdenkmal im Wiener Stephansdom, in dem sich beim Wiederaufbau 1947 die revidierte Opferthese manifestierte. Tanja Schult macht sich auf die Suche nach Johanna-Dohnal-Denkmälern in 23 Wiener Parks. Ilse Reiter-Zatloukal untersucht das Ständestaatwappen im Justizpalast usw.
„Wer Österreichs holprigen Weg zur Demokratie, mit den Einbrüchen des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus verstehen will, flaniert am besten mit der Historikerin über den Wiener Heldenplatz“, schreibt Christa Zöchling in ihrer Hommage. Oder man liest dieses Buch, nach dessen Lektüre man mit anderen Augen durch die Denkmallandschaft Österreichs geht. Man kommt auf Zusammenhänge, an die man zuvor nicht gedacht hat.