Wenn es um Asylfragen geht, verschieben sich die europäischen Grenzen flexibel – wahlweise nach außen, etwa nach Tunesien, aber ebenso nach innen, aufs griechische, italienische oder spanische Festland.
Es hängt freilich von eigenen biografischen Erfahrungen ab. Doch mehrheitlich assoziiert man hierzulande mit Staatsgrenzen vermutlich die gezeichnete Abgrenzung von Ländern im Atlas. „Unsere Auffassung von Grenzen ist sehr kartografisch“, sagt auch Bilgin Ayata. „Wir wissen zwar aus der Geschichte, dass sie sich verändern und verschieben, dass neue Staaten gegründet werden oder Imperien aufbrechen, wenn es Kriege gibt. Nichtsdestotrotz ist unsere Vorstellung von Grenzen als fixen Linien eine sehr verfestigte Annahme, die wir schon seit zwei Jahrhunderten haben.“
Ayata ist Politische Soziologin und forscht am Zentrum für Südosteuropastudien der Uni Graz. Sie leitet das Projekt „Elastic Borders“, in dem genau diese Vorstellung von Grenzen infrage gestellt wird.
Ziel ist es, die theoretische Grundlage für ein aktualisiertes Konzept von Grenzen anhand von empirischen Fallstudien und analog zum physikalischen Prinzip der Elastizität (aufgrund von Druck verformt sich Material vorübergehend) zu erarbeiten und Erklärungen dafür zu geben. „Das Phänomen ist nicht neu“, erklärt die Forscherin. „Auch früher waren Grenzen dynamisch, aber drei Prozesse – Digitalisierung, Globalisierung und Politik der Versicherheitlichung
– haben zu einer sehr starken geografischen Flexibilität bei Grenzpraktiken geführt.“
Sie verweist auf das in dem Zusammenhang häufig fallende Schlagwort „Externalisierung“, um die Auslagerung der EU-Grenzen zu beschreiben. In bestimmten Fällen jedoch würden Grenzen auch nach innen verlagert, so Ayata. Eine Einsicht, die sie aus einer vorherigen Studie gewonnen habe, für die sie mit ihrem Team den 2015 eingeführten EU-Hotspot-Ansatz als neues Migrationsmanagementinstrument in Griechenland und Italien detailliert beobachtet hat.
Das Ergebnis waren Wartezentren für Geflüchtete (zur Registrierung und Asylantragstellung), in denen verschiedene EU-Agenturen wie Frontex oder die Asylbehörde
EUAA zum Einsatz kamen. „In Griechenland stellten die Inseln eine Art Pufferzone zum eigentlichen Griechenland, dem Festland, dar, wo Menschen, die übers Meer geflohen waren, in einer Art rechtlichem ,No Man‘s Land‘ landeten, obwohl sie physisch natürlich schon auf EU-Territorium waren. Aber hier wurde noch einmal detektiert: Wer darf weiter, und wer wird zurückgeschoben?“
So wurde eine national geregelte Grenzpolitik zu einem multinationalen Projekt. Nicht ohne Folgen. „Bei unseren Forschungen vor Ort haben wir gesehen, wie komplex die Situation ist, weil so viele Akteure an diesen Prozessen teilhaben.
Es entsteht ein Labyrinth an unterschiedlichen Zuständigkeiten, wo alle Einfluss haben, aber sehr wenige Verantwortung, insbesondere für die Missstände.“Im neuen EUMigrationspakt soll diese Praxis schon bald verrechtlicht werden („fiction of non-entry“) und sich auf die anderen Länder ausweiten.
Aktuell sind neben den griechischen Inseln und dem italienischen Lampedusa die kanarischen Inseln mit einem enormen Zuwachs an Ankünften aus Westafrika (154 Prozent im Vergleich zum Vorjahr; 2023 waren es knapp 40.000 Menschen) ein großes Thema. Die Route zählt aufgrund ihrer Länge, der fehlenden Seetüchtigkeit der Boote sowie der unberechenbaren Strömungen und Winde zu den gefährlichsten weltweit.
„Um beide Bewegungsarten von Grenzen – nach innen und nach außen –, die gleichzeitig stattfinden können, erfassen zu können, finde ich das physikalische Konzept von der Elastizität sinnvoll“, erklärt Ayata. „Mich interessieren die rechtlichen Bedingungen wie der Hotspot-Approach oder bilaterale Abkommen wie das geplante Abkommen zwischen Italien und Albanien genauso wie die technologischen Faktoren, die diese Verschiebungen überhaupt ermöglichen.“Beispiele für Technologieeinsatz an den Grenzen sind die Vorhersage von Ankünften und Routen mittels künstlicher Intelligenz, die Erfassung und Weitergabe von biometrischen Daten, die Überwachung durch Radargeräte und Drohnen oder Algorithmusgesteuerte Systemen zur Bewegungserkennung.
„Die digitalen Kontrollen an Flughäfen machen den Übergang fast nahtlos, wenn man einen Pass oder ein Visum hat. Man legt kurz den Ausweis hin und geht weiter“, sagt Ayata. „An den EU-Außengrenzen werden dieselben Technologien ähnlich eingesetzt, allerdings für gegenteilige Zwecke – zur Filtrierung und Sortierung. Die große Hoffnung ist, dass idealerweise schon vor der Grenze unterschieden wird, wer einen legitimen Grund für einen Asylantrag hat und wer nicht.“Ein Beispiel für die massive Nutzung digitaler Technologien ist das 2021 auf der griechischen Insel Samos errichtete gefängnisähnliche Lager für 3000 Personen. Ein EU-Spezifikum ist diese hochtechnologisierte Grenzsicherung nicht, sie gibt es u. a. zwischen den USA und Mexiko sowie zwischen Pakistan und Indien.
Doch es sei ein Wunschdenken, sich durch die nur vermeintlich objektivierte Kontrolle (letztlich ist jede Technologie menschengemacht) und den Wegfall der Grenzbeamten der ethischen, moralischen, sozialen und politischen Aspekte des Prozesses entledigen zu können, hält Ayata fest. Nichtsdestoweniger ermögliche die Technologie die Flexibilität der Grenzen, die dann dank praktischer kleiner Geräte schon Dutzende Kilometer von der tatsächlichen Grenze entfernt durchgeführt werden könne. Das Dilemma: Das Recht auf Asyl ist in den europäischen Grundrechten mehrfach fest verankert. „Durch die Filtrierung vor der Grenze fällt die rechtliche Überprüfung der jeweiligen Asylgründe jedoch weg, und die Genfer Flüchtlingskonvention findet keine Anwendung. Das ist ein Problem.“
Im 2022 gestarteten Projekt „Elastic Borders“untersucht Ayatas sechsköpfiges Team mittels vertiefender ethnografischer Studien auch die sozialen und politischen Konsequenzen von dynamisch flexiblen Grenzen. Die Forschenden werden weiterhin die Situation in der südtunesischen Provinz Medenine, auf den kanarischen Inseln und auf der griechischen Insel Samos beobachten und analysieren.
In Medenine herrschten im Sommer rund um die Verhandlungen eines Abkommens zwischen EU und Tunesien (Finanzhilfe gegen Unterstützung bei der Eindämmung der Flucht übers Mittelmeer) an der libyschen Grenze etwa pogromartige Zustände gegen geflüchtete Menschen, so die Forscherin. Zu Hunderten wurden diese bei 50 Grad Celsius in der Wüste ausgesetzt und mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen. „Tunesien entwickelte sich innerhalb eines Jahres zu einem zentralen Akteur der europäischen Grenzpolitik, und die Situation verschärft sich weiterhin von Tag zu Tag.“
Samos wiederum könnte sich zu einem Beispiel für Verstetigung verwandeln, wenn die Grenzpraktiken unabhängig von den Ankünften aufrecht bleiben. Sprich, die Elastizität wird zur Plastizität.