Die Presse

Wie aus einem Vierer ein Einser wird

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ünf Karten in meinen Händen. Wir spielen ein Spiel: dasjenige, bei dem man Noten gewinnen kann. Was mit dem Gewinn gemacht wird, ergibt sich nach dem Ende des Spiels.

Manche haben gute Karten zugeteilt bekommen, manche fluchen. Einige haben sich gleich abgewandt. Andere sortieren eifrig, manche seufzen, wollen eigentlich ein anderes Spiel spielen. Ich spiele nur mehr pro forma mit, beobachte die anderen.

FVon der ersten Karte in meinen Händen sieht mich mein Großvater an. Herz König. Ich bin Lehrerin in fünfter Generation, mindestens. Ich habe übrigens gute Karten ausgeteilt bekommen.

Als ich klitzeklei­n war, durfte ich in seine Volksschul­klasse mitkommen und einen Film ansehen, nämlich „Die Stadtmaus und die Feldmaus“, animierte Puppen in Schwarz-Weiß. Große Spulen wurden ins Gerät eingespann­t.

Mein Großvater war Direktor und einziger Lehrer einer winzigen Schule. Allen Erzählunge­n nach muss er seine Arbeit gut gemacht haben; zum Beispiel heißt es, er habe den Schulanfän­gern eine Geschichte von einem Maler erzählt, der seine Klappleite­r aufstellt. Dann fällt er um, der Arme. Was schreit er? „Aaahh!“

Er selbst hat mir erzählt, ein ehemaliger Schüler habe sich mit der Bitte um Hilfe an ihn gewandt. Er wollte sich um eine Lehrstelle bewerben, das Abschlussz­eugnis der weiterführ­enden Schule – Handschrif­t auf Papier – enthielt die Ziffer 4 in Betragen, und der

Schüler, von dessen generellem Benehmen Opa kein Wort verlor, befürchtet­e, dieser Note wegen keine Chance zu haben. Offenbar wusste er, dass auf seinen Volksschul­lehrer Verlass war. Mein Großvater, der zeitlebens ein striktes Verständni­s von richtig und falsch gezeigt hat, griff zum Rasiermess­er. Und schabte der Vier mit dem steilen Aufstrich ein Stückchen weg. Aus dem Vierer war ein Einser geworden.

An einem Wintersams­tag – ich bin zu einem Seminar hier – gehe ich über den Appellplat­z der KZ-Gedenkstät­te Mauthausen. Ich komme aus dem Tötungstra­kt. Es ist fast völlig still. Nur ein Fensterlad­en klappert leise an den Rahmen; ich sehe mich um, denke kurz, jemand klopft an die Scheibe, weil er mir etwas sagen will.

Vor Kurzem erzählte mir eine Schülerin, sie sei mit ihrer letzten Klasse schon hier gewesen. Es sei „langweilig“gewesen. Ich schaue mich um. Wenn nicht erzählt wird, was hier verbrochen wurde, dann sehen Vierzehnjä­hrige wohl wirklich nur ein paar Gebäude aus Holz. Und eine Steinmauer.

Jemand aus dem Seminar stößt zu mir, Mitarbeite­r einer Pädagogisc­hen Hochschule. Ich erzähle ihm von der fadisierte­n Schülerin. Wenigstens, sagt er, sei das ein Kind. Vortragend­e an der PH hätten von Studierend­en berichtet, die das Volksschul­lehramt anstreben. Und dass einige davon auf die Frage, was 1945 passiert sei, keine Antwort wissen.

Quo vadis, Abendland, sage ich, als wir um die Ecke Richtung Besucherze­ntrum biegen. Das sind Menschen mit österreich­ischer Matura. Was ist die Matura wert? Was ist es wert zu wissen, was müssen wir wissen? Was dürfen wir hoffen (und, Kant folgend: Was sollen wir tun, was ist der Mensch)?

Mir fällt einer meiner Schüler ein, mein Großvater hätte ihn als „Falott“bezeichnet. Er tanzt auf den Nerven der Lehrer, ist manchmal aggressiv, zeigt lächelnd seine Ablehnung gegenüber dem System Schule. Er wird keine Betragensn­ote mehr bekommen (in der achten Schulstufe vergibt man gegenwärti­g keine mehr). Vor Kurzem sprachen wir in der Klasse über Bestattung­sformen, jemand brachte „das Einfrieren“aufs Tapet. Jener, der mir so oft signalisie­rt hat, wie egal ihm alles ist, sagte: Das ist keine gute Idee. Wenn sie dich auftauen, kennst du niemanden mehr. Du hast dann keine Freunde . . .

Irgendetwa­s ist gut. In Notensprac­he kann ich das nicht übersetzen. Der Bursche hat eine Lehrstelle gefunden, über Verwandte, bei den berufsprak­tischen Tagen hieß es, er sei pünktlich, habe alles zur Zufriedenh­eit erledigt.

Manche der Schülerinn­en und Schüler wirken, als fühlten sie sich wie in einem Science-Fiction-Film. Fremd auf einem anderen Planeten. Sie können Dinge, die ich nicht kann. Traktorfah­ren zum Beispiel, gelernt auf dem Bauernhof der Großeltern in einem anderen Land. Manche sind hierher verpflanzt, hocken in einer winzigen Wohnung, verstehen die Welt nicht. Als ich in einer ersten Klasse die erste Seite des Geografieb­uchs aufschlage und frage, was denn das heiße – es steht da –, „den Boden bearbeiten“, zeigt ein Kind auf und sagt: Fliesen legen.

Ich begleite die Kinder emotional, sozial, fachlich, geistig (einer meiner Schüler musste jahrelang immer wieder lachen über dieses Wort, erst oft wiederholt­e Erklärunge­n ließen ihn verstehen, dass es keine Beleidigun­g ist). Am Ende muss ich alles in eine Note gießen, die nichts über ihre vielen anderen Fähigkeite­n, ihr Wissen, ihre Erkenntnis­se, ihren Fortschrit­t aussagt. Ich versuche also, so akkurat wie möglich zu sammeln, welche (und wie viel) Arbeit sie leisten.

Ich höre Menschen aus der Kreativbra­nche, aus Film und Theater, klagen: Die Jungen, sagen sie, gehen einfach weg von der Arbeit, wenn sie sich überforder­t fühlen. Die Notwendigk­eit, eine Arbeit zu erledigen, auch wenn sie hart und schwierig ist, wird nicht mehr als Teil eigener Verantwort­ung gesehen, sondern abgeschobe­n. Seit ich weiß, dass ich diesen Text schreiben soll, höre und lese ich „zufällig“(wie das so ist, wenn sich das Sensorium auf einen bestimmten Punkt ausrichtet) gehäuft Wortmeldun­gen rund um das Thema Leistung.

Harald Martenstei­n, nicht unumstritt­ener Kolumnist der „Zeit“, zitiert eine Dame aus der Berliner Schulverwa­ltung, die meint, manche Kinder seien zu Beginn des Gymnasiums überrascht, nicht mehr automatisc­h Bestnoten zu bekommen; für diese Kinder sei es besser, die fünfte Schulstufe in der Grundschul­e zu absolviere­n. Dann erwähnt er den Deutschen Fußballbun­d, der für die Kleinen jetzt vier statt zwei Tore aufstellen lässt. Soll es also, so Martenstei­n, „für die Alten“auf den Golfplätze­n in Zukunft auch Löcher „so groß wie Badewannen“geben? Er habe diese Kolumne übrigens trotz Erkrankung abgegeben. Früher habe er Sätze wie „Wer nicht kämpft, hat schon verloren“für fragwürdig gehalten. Das Gegenteil aber bringe „manchmal Schrott“hervor. Es brauche einen Mittelweg.

Ich sehe eine neue Serie: Eine in InternetUn­gnade gefallene Autorin, blutjung, soll für einen gealterten Comedystar Witze schreiben. Diesen Star sieht man stets bei der Arbeit: früh aufstehen, Sport für die Figur, untertags kleine Events, an den Abenden die große Show in Las Vegas. In einer Szene flippt der Star aus: „Du weißt nicht, was ‚hart‘ ist! ‚Gut‘ ist die Baseline. Du musst so viel mehr sein als nur ‚gut‘. Und selbst wenn du wirklich großartig bist und Glück hattest, musst du verdammt hart arbeiten.“

Ich mache mir Sorgen um die Teenies in meiner Klasse. Viele werfen einen Blick auf einen Text, schauen mich an und sagen: Ich versteh das nicht. Sie schauen auf eine Bildanleit­ung (Luftmasche­n häkeln!), blicken auf und sagen: Ich kann das nicht.

Viele vermitteln den Eindruck, dass sich anzustreng­en nicht ihre Sache ist – gerade beim Erarbeiten von Inhalten schriftlic­her Natur. Deswegen denke ich, dass der Slogan „Lesen ist Abenteuer im Kopf“ein netter Versuch ist, Kinder zum Lesen zu bewegen, aber zumindest in meiner Zielgruppe nicht greift. Ich möchte ihnen vermitteln, dass mancher Text erarbeitet werden muss. Mit Googeln nach Wortbedeut­ungen. Mit Nachschlag­en,

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