Als der Reporter noch nach Luft schnappte
ls während der Lockdowns Fußballspiele ohne Fans in den Stadien bestritten wurden, überraschte mich der deutsche Startrainer Jürgen Klopp mit einer Aussage. Auf die Frage, ob er die Stadionatmosphäre auch zu Hause vor dem TV-Gerät vermissen würde, entgegnete er, dass er Spiele ohnehin seit Jahren ohne Ton schaue. Er brauche niemanden, der ihm sagen würde, dass jetzt die Nummer 11 den Ball habe, das sehe er selbst. So könne er sich besser auf das Spiel konzentrieren.
Auch wenn mir dieser stets verdächtig gut gelaunte Übungsleiter mit seinen in jeder zweiten Werbung auftauchenden Lebensweisheiten seit Jahren auf die Nerven geht, probierte ich das mit der stummen Fußballübertragung einmal aus, und ich gebe zu, dass ich den Ton seither nur in seltensten Fällen wieder angedreht habe. Wenn ich mir heute ein Fußballspiel anschaue, sehe ich mit ihren Körpern gegen die sie umgebende Stille anrennende Sportler, wild gestikulierende Trainer, die, wie in einem Albtraum, kein Wort herausbringen, und angestrengte, gefühlsüberflutete Gesichter von Fans, deren Gesänge unter einer alles bedeckenden Glasglocke verschluckt werden. Ich höre nichts. Keinen Torschrei, keine Analysen, keine Floskeln. Wie konnte das passieren? Als Kind noch ließ ich keinen Zweifel daran, dass ich eines Tages Fußballkommentator werden wolle. Die Voraussetzungen waren scheinbar gegeben: Ich kannte sämtliche Statistiken auswendig und redete pausenlos zum Leidwesen meiner Eltern während der Spiele, die wir gemeinsam sahen. Sogar meine eigenen Kleinfeldspiele kommentierte ich zur Verwunderung meiner Gegenspieler gleich mit. Während ich mit dem Ball am Fuß rannte, hechelte ich etwas von Holzapfel, der eigentlich abspielen sollte, aber die Übersicht verloren hätte. Der Ball wurde mir abgenommen, aber ich kommentierte weiter. Mir war klar, dass ich so immer gewinnen würde, denn selbst wenn das Ergebnis im Fußball eine Wahrheit spricht, die Interpretation des Ergebnisses spricht lauter.
AAnstrengend war mein dauernder Kommentierimpuls für meine Freunde an der Spielekonsole, denn dort imitierte ich bei jedem eigenen Torerfolg die Jubelarien italienischer und spanischer Reporter mit ihren endlosen Torrufen und übertönte die in jener Zeit noch arg hilflosen, in die Videospiele programmierten Kommentare, die immer mit einer seltsamen Verzögerung auf das Spielgeschehen reagierten. Verschiedene Passagen aus berühmten historischen Kommentaren kannte ich mit elf Jahren auswendig. Dass man aus dem Hintergrund schießen, sich abbusseln und narrisch wern’ könne, war mir vollends klar, ebenso, dass der Zirkus in der Stadt war, wenn Ronaldinho den Ball berührte, und dass man beim bedrohlich lustvoll ins Mikrofon atmenden Fritz von Thurn und Taxis alles über Synonyme lernen konnte, denn ein Spieler war eben nicht nur schnell, nein, er war schnell und quick und stürmisch und rasend, und das sagte dieser schnappatmende Reporter rasch hintereinander, sodass ich die rauschhafte Geschwindigkeit des Sports förmlich an den Worten greifen konnte.
Mein Onkel nannte mich bereits Marcel Reif und fuhr mit mir zu „Olympic Spirit“in München. Dort konnte man sich nämlich nicht nur in verschiedenen olympischen Sportarten ausprobieren, sondern auch in eine enge Reporterkabine setzen, um große Ereignisse der deutschen Olympiageschichte zu kommentieren. Das Ergebnis durfte man sich in Form einer VHS-Kassette mit nach Hause nehmen.
Ich glaube, dass das Abspielen dieses Videos, auf dem ich höchst emotional den Olympiasieg von Dieter Baumann über 5000 Meter 1992 in Barcelona kommentierte, die erste große Niederlage meines Lebens markierte. Ich hörte meine kindlich-schrille, ahnungslose und ständig über sich selbst lachende Stimme und wollte im Boden versinken. Ich nahm das Tape mit auf mein Zimmer und versteckte es in einer nie mehr geöffneten Schublade. Trotzdem war diese Niederlage nicht so groß, dass ich gleich aufgegeben oder mir fortan Spiele stumm angesehen hätte. Andere Faktoren sorgten in meiner Jugend dafür, dass ich den einstigen Traumberuf immer skeptischer beäugte. So konnte ich partout nicht akzeptieren, dass man als Fußballkommentator nicht wirklich seine eigene Meinung sagen kann, sondern zu journalistischer Neutralität verpflichtet ist. Besonders frappierend fiel mir das bei den großen Turnieren auf, wenn die gar so steif verteidigte Objektivität plötzlich gegen Nationalstolz eingetauscht wurde. Ich verstehe bis heute nicht, warum ich ausgerechnet das Land unterstützen sollte, in dem ich geboren bin. Im Sport zeigen sich für gewöhnlich so viele der schlimmsten Eigenschaften einer jeweiligen Kultur, dass mir nichts ferner läge, als diese noch anzufeuern. Diese „schlimmsten Eigenschaften“, die ich zu bemerken begann, betrafen schließlich auch diejenigen, die die Spiele kommentierten. In Deutschland würde ich den durchschnittlichen Kommentarstil als überkritische, nüchterne Sachlichkeits- und Gerechtigkeitsheuchelei umschreiben. Da ich in Bayern aufgewachsen bin, wich ich folglich oft auf den Österreichischen Rundfunk aus. Dort war ich gefeit vor deutschem Nationalstolz und vernahm einen ganz anderen Tonfall, den ich als selbstbemitleidend-ahnungsloses, süffisantes Wut- oder Schadenfreude-Gesäusel umschreiben würde.
Ich scherze ein wenig, aber wie sehr sich die beiden Nachbarländer unterscheiden, kann man bis heute hervorragend nachempfinden, wenn man sich Ror Wolfs Hörspiel „Cordoba Juni 13:45 Uhr“anhört. Der Schriftsteller collagiert darin die Kommentarspuren des österreichischen Reporters Edi Finger und des deutschen Sprechers Armin Hauffe während des legendären österreichischen Triumphs über Deutschland in Argentinien 1978. Das war zwar vor meiner Zeit, und sicherlich wird heute anders kommentiert, aber insbesondere Fingers überschäumende, sich beinahe im Absurden verlierende Spielbegleitung prägte Jahre meine Vorstellung eines idealen Kommentars. Vor allem die Stelle: „Und warten S’ noch ein bisserl, warten S’ no a bisserl – dann können wir uns vielleicht ein Vierterl genehmigen“, hörte ich wieder und wieder.
Ich stellte mir ganz naiv vor, dass da jemand im Stadion sitzt und einfach drauflosspricht, dass es also eine wie auch immer geartete, direkte Verbindung zwischen der Sprache und dem Spiel gibt und dass diese eigentlich keine Funktion hätte, außer derjenigen, die auf dem Spielfeld existierende Freude in Sprache zu multiplizieren und mit der Welt zu teilen. Doch nach und nach begriff ich, dass diese sprechenden Männer – es waren ausschließlich Männer in meiner Jugend – noch ganz andere Funktionen einnahmen. Sie erzählten nämlich Geschichten.
Das wäre an sich nicht schlimm, aber diese Geschichten, so begriff ich bald, verändern, ja manipulieren die Wahrnehmung des Spiels. So können die Reporter schlechte Leistungen gut aussehen lassen und vice versa. Sie narrativieren den Sport, liebäugeln mit den in TV-Serien beliebten Heldenreisen und verstellen so den Blick auf die eigentlich herrliche Zufälligkeit des Spiels. Statt die Aufmerksamkeit auf die wahren Highlights des Spiels zu lenken, etwa auf ein sich im Fünfmeterraum aufhaltendes Rotkehlchen oder die seltsame Art, in der die Nummer 11 die Schnürsenkel bindet, ergießen sie sich in Statistiken, die beweisen sollen, was jeder weiß: dass die Nummer 11 auch nach langer Verletzung viele Tore schießt und akribisch arbeitet und dass man die Nummer 7 decken muss, um nicht zu verlieren.
Statt den Ereignissen zu folgen, versuchen die Kommentatoren diese zu antizipieren und zu lenken. Das gilt natürlich nicht nur für den Fußball, ist dort aber aufgrund der großen medialen Aufmerksamkeit und politisch-gesellschaftlichen Rolle besonders frappierend. Sportler werden in Rollen gedrängt und haben dort zu bleiben: der Künstler, die Diva, das Comeback, die Zuverlässigkeit, der Ehrgeiz und so weiter.
Derart werden auch schnell Sündenböcke erfunden, die allein aufgrund ihres Gebarens für Niederlagen verantwortlich sind. In Deutschland schießt man sich mit Vorliebe auf jene Spieler ein, die zwischendurch den Kopf hängen lassen. Als wäre das keine menschlich nachvollziehbare Reaktion auf Misserfolg. Wenn die Zuschauer diese Meinungen der Reporter dann übernehmen, entstehen regelrechte Hetzjagden, die zeigen, wer neben den mehr als fragwürdigen Funktionären und Sponsoren die Macht in diesem Sport hat und die vor allem deshalb problematisch sind, weil sie sich über den Sport hinaus schnell in rassistische Diskurse übertragen. Dazu muss der Spieler mit den hängenden Schultern nur migrantischen Hintergrund haben. Ich hatte diese Macht als Kind erspürt, aber mir war nicht klar, wie kalkuliert und kurzgreifend sie sein kann.
Natürlich gibt es sie noch, die mitreißenden, überschäumenden, aufrichtigen und rücksichtsvollen Kommentare, aber sie sind Teil einer Welt geworden, in der ohnehin alles kommentiert wird. Die häufig beschriebene Bilderflut hat längst ihr Pendant gefunden in einer Bildinterpretationsflut. Die besten Reporter heute wissen das, weshalb sich wieder mehr Gefühl, mehr Spontanität in den Kommentaren finden. Außerdem fällt auf, dass vermehrt auf Co-Kommentatoren gesetzt wird. Das Spiel wird im Dialog interpretiert, manchmal gar diskutiert. Aber ersetzt das die herrliche, von Jürgen Klopp propagierte Stille?
Spätestens mit der in den vergangenen zehn Jahren explodierten Kommerzialisierung des Fußballs hat sich das Verhältnis zwischen Reporter und Sport noch einmal grundlegend gewandelt. Jetzt kann man feststellen, dass viele Reporter im Bezahlfernsehen oder bei Streaming-Diensten für die Firmen arbeiten, die auch die Gehälter der Fußballprofis finanzieren. Die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse verschieben sich weiter.
Nachträglich bin ich froh darüber, dass ich gelernt habe, während eines Fußballspiels den Mund zu halten. Drehe ich den Ton ab, glaube ich fast, diesem überkommerzialisierten Sport so etwas wie Würde und Schönheit zurückgeben zu können. Zwar schreien einen nach wie vor auf visueller Ebene zahlreiche Werbebanner an, aber sie fallen weniger auf im von mir geräuschlos gehaltenen Ballett des Leistungssports. Ein anderer Rhythmus offenbart sich dann, einer, der nur dem Ball folgt und nicht den Geschichten, die sich um ihn drehen. Einzig einen Knopf wünsche ich mir, der mir erlaubt, die Stimmung vor Ort ohne Kommentar mitzubekommen. Bei manchen Streaming-Anbietern gibt es diese befreiende AmbientFunktion, es sollte sie für alles geben.
Eines muss ich noch noch zugeben: Natürlich schlafe ich oft ein in dieser selbst auferlegten Kirchenstille. Es ist einfach beruhigend zu wissen, dass niemand schreien wird. Alles wird immer still bleiben, egal, ob nichts passiert oder Österreich mal wieder Deutschland besiegt, was übrigens längst kein Grund mehr ist, narrisch zu werden.
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