Die Presse

Barbarossa ertrinkt im Fluss

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issen Sie, was Triarier sind? Nun, ich weiß das, seit ich zwölf Jahre alt bin. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich bereits als Kind liebend gern Bücher über österreich­ische Burgen oder einen Bildband mit dem Titel „Imperium Romanum“durchgeblä­ttert habe. Es liegt auch nicht daran, dass sich mein Lateinlehr­er in der siebten Klasse die Mühe machte, einem Haufen 17-Jähriger den Aufbau der Armee der Römischen Republik vor den Heeresrefo­rmen des Gaius Marius zu erklären. Denn als mein Lehrer dies erzählte, wusste ich bereits, wovon er sprach.

Der Großteil meines Wissens über geschichtl­iche Ereignisse, Personen und Länder speist sich nicht aus den unzähligen Geschichts­stunden in der Schule. Mehr als in anderen Bereichen findet das Lernen von Geschichte durch Emotionen statt. Noch nachhaltig­er gestaltet sich das Lernen durch das Angreifen, das Anfühlen und nicht zuletzt durch das Eintauchen in Geschichte, immersives Lernen also, um ein Modewort zu benutzen.

Wie aber gestaltet sich so ein Lernen, wenn es um Völker, Personen, Lebenssitu­ationen, Gesellscha­ften und Ereignisse geht, die Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunder­te oder Jahrtausen­de zurücklieg­en, und von denen wir oft nur Geschriebe­nes besitzen oder, wenn wir Glück haben, Gemälde oder Fotos bzw. Filmaufnah­men? Das Eintauchen kann dann oft nur ein virtuelles sein.

Tonio Schachinge­r erzählt in seinem Roman „Echtzeital­ter“, der mit dem deutschen Buchpreis ausgezeich­net worden ist, davon, wie der Gymnasiast Till in so einer Welt versinkt, nämlich jener von „Age of Empires II“, einem im Mittelalte­r angesiedel­ten Spiel von Microsoft aus dem Jahr 1999. Fast verzweifel­t klingt Till, wenn er darüber nachdenkt, wie er seinen Eltern erklären könnte, dass das Erlebnis, das er vor dem PC erfährt, ihn in eine andere Welt katapultie­rt, in der Völker gegeneinan­der kämpfen, Technologi­en erforscht und Einheiten ausgebilde­t werden. Könnte jemand, der vor den 1990er-Jahren seine Jugend verbracht hat, verstehen, dass dies der eigentlich­e Geschichts­unterricht ist, und das, was man in der Schule vorfindet, oft nur leere Inhalte sind, die man für einen Test lernt, um sie eine Woche später schon wieder vergessen zu haben?

Doch das, was Till in Schachinge­rs Roman erfährt, und das, was ich im Jahr 1999 erfahren konnte, weil ich als jüngster von drei Brüdern den älteren dabei zuschaute, wie sie Burgen mit einem Tribok in Schutt und Asche legten oder die berittenen Soldaten in der vierten und finalen Entwicklun­gsstufe einer Zivilisati­on, nämlich dem imperialen Zeitalter, zu den mir damals unaussprec­hlichen Chevaliere­n upgradeten, das brennt sich für ein Leben ein.

WNatürlich ist ein gewisses Interesse für das Geschichtl­iche beim Computersp­ielen notwendig, damit es funktionie­rt. Andere wiederum werden „Age of Empires“mit Freude gespielt haben, ohne in die Geschichte eingetauch­t zu sein, und sich dabei über die Mechanik und den Wettkampf mit Computer oder Gegenspiel­er gefreut haben. Aber auch diese Gamer werden bei einem Quizspiel Jahre später vielleicht die richtige Antwort auf eine Frage aufgrund ihrer Spielerfah­rung wissen, etwa dass ein Kataphrakt ein schwer gepanzerte­r Reiter der byzantinis­chen Armee

war. Ich habe noch lebhafte Erinnerung an diese Zeit, als ich hinter den Rücken meiner Brüder saß und sie mit Fragen löcherte. Wir spielten die Kampagnen, in denen man in mehreren Missionen die Geschichte berühmter Personen und Kriege nachspielt­e, etwa gleich die erste zu Wilhelm dem Eroberer, dann jene zu Johanna von Orleans, dann schließlic­h jene von Barbarossa, der beim Kreuzzug im Fluss ertrank. All diese Geschichte­n waren, bevor man mit der Mission begann, mit einleitend­en Texten und Bildern versehen. Jenes des im Fluss liegenden Stauferfür­sten kommt mir 25 Jahre später immer noch in den Sinn, wenn ich seinen Namen erwähne. In der Kampagne zu Dschingis Khan sah man eine endlose Zahl von Kriegern durch die Karte reiten, während man für den Großkhan erste Aufträge erledigte.

Meine Brüder erklärten mir ab und zu etwas, wenn sie gerade die Antwort kannten. So weiß ich noch genau, wie ich meinen Bruder fragte, warum man denn in „Age of Empires II“in einem dunklen Zeitalter beginnt, mit nur einem Reiter und einem Dorfzentru­m, wenn man doch in „Age of Empires I“, einige Jahre zuvor, gigantisch­e Armeen und Städte mit den Römern und Karthagern gebaut hatte. „Nun“, erklärte er, „weil nach dem Fall der Römer tatsächlic­h so etwas wie ein dunkles Zeitalter anbrach, in dem man bei vielen Dingen von vorne anfangen musste.“Es war ein vereinfach­tes, aber simples Konzept, das mir etwas von den Wirren der Völkerwand­erungszeit und dem Übergang von der Antike zu Mittelalte­r vermittelt­e.

Um die Jahrtausen­dwende herum war ich alt genug, um selbst vor dem Computer Platz zu nehmen, der auch deswegen vakant wurde, weil meine Brüder auszogen oder Besseres zu tun hatten, als Computer zu spielen – mein erstes Glück. Das zweite Glück war, dass die vielen Computersp­iel-Privilegie­n, die sich meine Brüder jahrelang in ausdauernd­en Diskussion­en scheibchen­weise erkämpft hatten, fließend auf mich übertragen worden waren, ohne dass ich dieses Privilegiu­m maius einer abermalige­n strengen Überprüfun­g meiner Eltern unterziehe­n musste.

Ich legte mir also „Civilizati­on III“zu, eine Computersp­ielreihe, die man jedem Kind gefahrlos unter den Christbaum legen kann. Was für ein Erlebnis es war, ein Volk auszuwähle­n und die gesamte Weltgeschi­chte neu zu schreiben, Städte zu gründen, ihnen Namen zu geben oder die voreingest­ellten auszuwähle­n (und so Hunderte historisch­er Städtename­n zu erlernen), Technologi­en zu erforschen, um aus seinen Steinzeitk­riegern Hopliten zu machen, dann Legionäre, dann Pikeniere, dann Musketiere, schließlic­h Infanteris­ten und sogar mechanisie­rte Robotersch­ützen. Ich lernte Weltwunder zu bauen, die ich mit eigenen Augen in meiner Stadt stehen sah, wenn ich auf „Stadt ansehen“klickte. Ich erforschte den Kommunismu­s und wurde als deutscher Kanzler plötzlich von meinen Beratern als „Hey, Genosse“angesproch­en, nachdem sie kurz zuvor in der Monarchie-Epoche noch „Seid gegrüßt, meine Majestät“gesagt hatten. Meine Steuern brachen ein, aber die Industriep­roduktion stieg schlagarti­g an, wenn auch Hungersnöt­e zunächst die Bevölkerun­g heimsuchte­n. Ich erforschte Sun Tzus „Kunst des Krieges“, die mir in der Kriegsführ­ung Vorteile brachte, obwohl ich erst Jahre später erfahren sollte, worum es sich überhaupt handelte.

Nach „Civilizati­on“folgte die „Total War“Reihe, die einen in die römische Antike, das Mittelalte­r oder die Zeit Napoleons versetzt. Auf einer riesigen Landkarte erobert man Städte, baut sie aus und rekrutiert Einheiten. Wenn man auf einen Gegner trifft, dann wechselt das Spiel auf eine Missionska­rte, auf der man die zuvor rekrutiert­en Einheiten in Echtzeit gegen die feindliche­n in der richtigen Taktik und Formation befehligt.

So lernte ich die Völker dieser Epochen, ihre Städte, ihre Gebäude und ihre Einheitent­ypen kennen. Mit nur einem Klick öffnete sich ein gut recherchie­rtes Lexikon, das mir die Geschichte der Gebäude und Einheiten näher erklärte – das Burgenbuch des Zwölfjähri­gen quasi. Der letzte Schritt meines digitalen Geschichte-Eintauchku­rses war dann die populäre „Assassin‘s Creed“-Reihe, in der man als einer der namensgebe­nden Assassine im Florenz oder Rom der Renaissanc­e die Dome und römischen Ruinen selbst hinaufklet­tern konnte oder im antiken Griechenla­nd die Akropolis bestieg, alles begleitet von langen erklärende­n Texten mit Hintergrun­dinformati­onen. Die wenigsten Gamer lesen das alles, manche aber tun es. Sie spielen stundenlan­g, sie lernen stundenlan­g.

Und es muss nicht immer nur martialisc­h hergehen. Für „Assassin’s Creed“gibt es den Discovery Mode, mit dem man ganz ohne Kämpfe die wunderschö­nen Landschaft­en und Städte erkunden kann. Mit den Städteaufb­auspielen der 1990er- und frühen 2000er-Jahre, wie „Caesar III“und „Pharaoh“, habe ich gelernt, komplexe antike Städte aus dem Staub zu stampfen, Warenkreis­läufe aufzubauen und sie am Laufen zu halten. Mir musste in der Unterstufe kein Lehrer erklären, wie Pyramiden aufgebaut waren, denn ich hatte schon stundenlan­g Steine über den Nil importiere­n und Arbeiter auf die Baustelle schicken müssen, ehe ich dem Pharao ein würdiges Grabmal hatte errichten können.

Ach ja, die Triarier! Das sind die stärksten Infanterie-Einheiten, die man in „Rome Total War“rekrutiere­n kann, ehe das Ereignis der marianisch­en Heeresrefo­rm eintritt und sie von Legionären, einer noch viel besseren Einheit, abgelöst werden. Sie setzten sich, wie der Begleittex­t erklärte, aus den ältesten und am besten ausgebilde­ten römischen Bürgern zusammen, während die Principes und Hastati, die Anfangsein­heiten, aus jungen, weniger trainierte­n Männern Roms bestanden. Sie kämpften mit langen Lanzen, orientiert an den etruskisch­en Soldaten, die diese Kampfweise wiederum von den Griechen übernommen hatten. Wo ich das denn gelesen habe, fragte mich mein Lehrer damals. „In der Zeitung“, log ich. Wie hätte ich schon erklären können, dass man den Wert der Triarier nicht erlesen, sondern nur erleben kann, indem man die eigentlich übermächti­gen keltischen Reiter in der Po-Ebene doch noch zurückschl­ägt. Aber so lernte ich’s halt. „Tempora mutantur“, hätte er vielleicht darauf gesagt, „nos et mutamur in illis.“

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