Ein Leben auf Kaszetteln
ie Literatur träumt davon, Vergangenes wiederzubeleben, Geschichte sinnlich erfahrbar zu machen. Figuren wie eine nie gekannte Großmutter, die womöglich ihre kleine Spur in die Geschichte eingeschrieben hat, sollen zu einem zweiten, täuschend echten Leben erwachen. In Gašper Kraljs Roman „Splitter eines Lebens“gibt es diese Großmutter mit schillernd-undurchsichtigem Lebenslauf und einen schreibenden Enkel, der mehr oder weniger freiwillig und mehr oder weniger engagiert ihren Spuren zu folgen versucht. Slowenien in der Zeit der deutschen Besatzung und des Widerstands dagegen – eine Frau, die nach dem Krieg Karriere als Physikerin macht: anscheinend eine perfekte Identifikationsfigur, jemand, wie man ihn (sie) finden will, um die „eigenen Wurzeln“zu erkunden. Doch das Buch weicht mit merkwürdiger Konsequenz all diesen konventionellen Erwartungen aus. Es gibt keine Wurzeln.
Stattdessen formt sich eben durch diese Ausweichbewegungen ein Netz – eine „Figur“ganz anderer Art, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Ljubljana und Barcelona, Prag und Wien, einer Handvoll Personen gespannt. Recherche, Imagination und geheime Korrespondenzen spielen zusammen und bringen etwas Unverhofftes zutage, das mit Geschichte zu tun hat, sie aber nicht zur Selbstversicherung ausbeutet.
„Splitter eines Lebens“ist der mehrfach ausgezeichnete zweite Roman des slowenischen Autors und Übersetzers Gašper Kralj. Wie schon in seinem Debütroman „Ablaufdatum“in der Reihe „Litterae Slovenicae“, ebenfalls kürzlich auf Deutsch erschienen, machen die wachsenden Zweifel am Geisteszustand und der Glaubwürdigkeit des Erzählers einen besonderen Reiz beim Lesen aus; der Sprachwitz, der in „Ablaufdatum“dem ziemlich zerrütteten Bewusstsein eines Sterbebegleiters abgewonnen wird, zeigt, dass Wahnsinn und Selbstironie durchaus miteinander vereinbar sind. „Es gibt Tage, an denen ich mich des Gefühls nicht erwehren kann, dass ich die Menschen mit meinen Gedanken fernsteuere. Noch schlimmer ist es an jenen Tagen, an denen ich sicher bin, dass es umgekehrt ist, dass andere mich fernsteuern. Dann wird die Sache furchtbar anstrengend.“Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Erzähler sich ausgerechnet von einem Mann mit dem deutschen Namen „Kunst“verfolgt sieht. Eine Art Verschwörung und Fernsteuerung bestimmt auch die Struktur von „Splitter eines Lebens“. Obwohl: Ursprünglich ist es eine Liebesbeziehung, wenn auch von mäßiger Romantik.
Der Enkel, ein schluffig-lethargischer und meist bekiffter Spanisch-Übersetzer, lernt auf der Abschlussparty eines Kongresses in Barcelona Klara kennen, eine Frau, die wie sein genaues Gegenteil erscheint. Jedenfalls auf den ersten Blick. Sie ist Architektin, arbeitet –
Dreunde außergewöhnlicher literarischer Wiederentdeckungen können sich freuen: Mit „Krieg“von LouisFerdinand Céline (1894–1961), der eigentlich Louis Ferdinand Destouches hieß, ist nun der erste Band eines sensationellen Manuskriptfunds bei Rowohlt kongenial ins Deutsche übertragen worden. Die rund 6000 Seiten, von denen „Le Monde“erstmals im August 2021 berichtete, und deren überraschender Fund ein Feuerwerk der Begeisterung in der französischen Literaturwelt entzündete, galten jahrzehntelang als Hirngespinst eines notorischen Aufschneiders, dem man nicht nur in seinen wortgewaltigen Brachialdichtungen schwer über den Weg traute. Célines wiederholt vorgetragene Klage, man habe ihm nach seiner überstürzten Flucht aus Frankreich im Sommer 1944 unveröffentlichte Werke aus seiner Dichterklause in Montmartre gestohlen – eine Story, die er in „Von einem Schloß zum andern“(1957) noch einmal lebhaft kolportiert –, entpuppt sich nun als gar nicht mal arg verzerrter Tatsachenbericht.
Die Hintergründe sind in der Tat spektakulär und lesen sich wie eine von Marc Reichweins „Actionszenen der Weltliteratur“: Als Céline sich vor den heranrückenden alliierten Truppen mit seiner Frau Lucette und Kater Bébert nach Kopenhagen absetzt, wo er vorausschauend seine Verlagstantiemen in Gold hinterlegt hat, brechen Mitglieder der Résistance in seine Wohnung ein, nutzen sie als Quartier und bemächtigen sich der Manuskripte des als militant-antisemitischen Kollaborateurs verschrienen Armenarztes. Unter den Widerständlern ist auch jener Yvon Morandat, der am 25. August 1944 im
Fnach einem Gefängnisaufenthalt wegen versuchten Drogenschmuggels – aber als Reiseführerin; um sie zu beeindrucken, erzählt ihr der Enkel von seinem in Wahrheit äußerst vagen Schreibprojekt, und aus Gründen, die nicht allzu viel mit ihm und mit seiner Großmutter zu tun haben, ist sie überraschenderweise sofort Feuer und Flamme. Die vage Idee wird zum Auftrag; der Partyflirt zur Fernbeziehung. Nicht, dass sich die beiden wirklich jemals verstehen würden; wenn sie sich treffen, in Barcelona, Prag oder Wien, nervt und langweilt er sie nur – oder fast nur; auch die Texte, die sie füreinander und gegeneinander schreiben, laufen auf schräge und eben dadurch auch signifikante Art aneinander vorbei. So weit man das, was der slowenische Enkel schreibt, schon Text nennen kann. Originaltitel des Romans ist „Škrbine“, was man als Kritzeleien oder Kaszettel übersetzen kann. Während er in Prag, in Ljubljana oder – am Ende erfolgreich – in Novo mesto die Orte aus dem Leben der Großmutter aufsucht und schüchtern Fragen stellt, notiert er
Alleingang mit seiner Frau den Sitz des Premierministers von der deutschen Besatzung befreien wird.
Anstatt jedoch Célines Manuskripte zu vernichten, bewahrte sie Morandat auf. Um 2004 wurden die Manuskripte Jean-Pierre Thibaudat, einem ehemaligen Theaterkritiker der Zeitung „Libération“, ausgehändigt – allerdings unter der strengen Auflage, sie nicht vor dem Tod von Célines Witwe Lucette publik zu machen. Diese wäre ansonsten in Versuchung geführt, jenes Konvolut, das wohl auch kompromittierende Fotos, Scheidungsdokumente und ein antisemitisches Pamphlet enthält, von diesen im Rückblick womöglich unliebsam erscheinenden Dokumenten zu „säubern“. 2019 starb Lucette im biblischen Alter von 107 Jahren, der Schatz seine Ergebnisse in knappster Form auf die Rückseiten von Fahrscheinen oder Rechnungen. Mit der eigenen Familie, mit seinem mehr als schweigsamen Vater, wagt er gar nicht erst zu reden. Klara liest genervt, was er ihr schickt, und ergänzt fantasievoll, zeichnet Räume und Szenen nach. Aus diesem minimalen Material aus der Ferne eine Wirklichkeit zu rekonstruieren bleibt allerdings ein fantastisches Unterfangen; Reales, Mögliches, Erfundenes, Falsches stehen in einer fragilen Balance, ein Textgewebe voller Zwischenräume, keine der Erzählinstanzen ist sich so recht bewusst, was sie sagt und weshalb sie es tut.
Auch Klara, die Architektin, ist nicht ganz so rational und souverän, wie sie erscheinen möchte. Weshalb hängt sie trotz allem an ihrem unzuverlässigen Schreib-Partner und kümmert sich mehr um ihn (und sein Schreiben), als er selbst es tut? Welche Wunde aus ihrer eigenen Vergangenheit verbindet sie mit diesem Mann, den sie eigentlich möglichst fern von sich halten möchte? Ein Punkt in ihrer Erinnerung taucht an entscheidenden Stellen auf, ein Moment, in dem ihr Vater seine vollkommene Verlorenheit zeigte.
Mit eigentümlicher Hingebung renoviert Klara das Haus des verstorbenen Vaters, stellt den Keller, in dem dieser Mann, wie der Erzähler-Kritzler, so tat, als würde er schreiben, wieder her; sie setzt ihn an die Stelle des Vaters, so als brauchte sie einen Schreibenden, der wiedergutmacht, was verloren ist, und etwas an die Stelle des Ungeschriebenen setzt; so als verlangte sie von ihm, in der Vergangenheit aktiv zu werden – nicht allein in seiner eigenen Familie, sondern in der ihren.
Die Missverständnisse, die Distanz zwischen diesem Mann und dieser Frau sind mehr als nur persönlich und werden überwuchert von Beziehungen über Zeit und Raum hinweg, ein Netz von geheimen Verbindungen. Während die Großmutter Vera dem Erzähler in den slowenischen Archiven fremd bleibt, fühlt er sich in Spanien in fremde Geschichten hineingezogen, und Klaras Mithäftlingin Zoe, eine politische Aktivistin, erinnert auf merkwürdige Weise immer wieder an Vera, so, als wäre die eine nur durch die andere sichtbar.
Vielleicht kann man über die eigene Familie nicht schreiben, und lohnender als eine platte Erzählung ist der Umweg: eine Geschichte durch eine andere erzählen. Ein Leben in einem anderen erscheinen lassen. Und der Leere, dem Unbekannten, seinen Platz einräumen.
gkonnte nun „gefahrlos“gehoben werden. Anders als sein Titel insinuiert, entfaltet sich der knappe Plot von „Krieg“nicht wie in „Reise ans Ende der Nacht“(1932) auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, sondern vielmehr hinter dem Vorhang der großen Materialschlachten, in einem Feldkrankenhaus in der Nähe des belgischen Städtchens Ypern, in dem der verwundete Protagonist Ferdinand – natürlich ein Alter Ego seines Schöpfers – darniederliegt, um sich von einer pervers-sadistisch veranlagten Krankenschwester abwechselnd händisch befriedigen wie katheterisieren zu lassen.
Was wir hier in düsterer Rouge-et-NoirOptik serviert bekommen, ist waschechter Céline, ein Panoptikum allzu unmenschlicher Unzulänglichkeiten: beißend und siedend heiß in seiner Sprache, bis zur Koketterie unbarmherzig in seiner Amoral und doch in seinen verblüffend schöpferischen Narrationsentgleisungen bis ins Mark desjenigen Lesers dringend, der die Gabe besitzt, die offenkundig widerlichen Seiten des Menschen Destouches für eine Weile aus dem Blickfeld zu verbannen, um sich dem überragenden Wortakrobaten und Weltuntergangsconnaisseur Céline und der leider Gottes verdammt beeindruckenden poetischen Kraft seines Schreiben zu überlassen.
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