Aus mit der Rückeroberung?
Die USA wollen Kiew angeblich dazu drängen, von nun an in die Defensive zu gehen, um die Russen langfristig ausbluten zu lassen. Zudem solle die Kriegswirtschaft wachsen.
Während auf den Schlachtfeldern der Süd- und Ostukraine auch wetterbedingt nichts vorangeht, russische Vorstöße scheitern und Drohnen, Raketen und Marschflugkörper im Hinterland der Ukraine niedergehen, wird diese von einem neuen Korruptionsskandal im Militär erschüttert. Berichten vom Wochenende zufolge hat der Inlandsgeheimdienst SBU ein Korruptionssystem beim Waffenkauf aufgedeckt, bei dem es um mindestens ca. 37 Millionen Euro geht. Hohe frühere und derzeitige Beamte des Verteidigungsministeriums sowie Leiter von Firmen, insgesamt fünf Personen, seien an der Veruntreuung von Geldern beteiligt.
Konkret geht es um den Kauf von 100.000 Granaten für Granatwerfer bei der Firma Lviv Arsenal in Lwiw (Lemberg). Das Militär und das Unternehmen hatten den Vertrag 2022 geschlossen, ein Teil des Preises sei vorab gezahlt worden, davon ging ein Teil ins Ausland. Allerdings seien bis heute keine Granaten geliefert worden. Ein Verdächtiger wurde beim Versuch, die ukrainische Grenze ins Ausland zu queren, festgenommen.
Dass Korruption in der Ukraine endemisch ist, war schon vor Kriegsbeginn bekannt. Wenn sich solche Vorgänge aber im Krieg ereignen und dessen Verlauf unter Umständen ungünstig gestalten, wird die Sache sozial brenzlig. Es schadet der Kriegsmoral, und das ganz besonders vor dem Hintergrund der gescheiterten Gegenoffensive im Vorjahr, die vor und in den massiven und tiefgestaffelten russischen Verteidigungslinien verpuffte. Auch im Verhältnis zu den westlichen Unterstützern Kiews machen solche Korruptionsgeschichten keinen schlanken Fuß.
Viele „Seltsamkeiten“
Bisher wurden mehrere Korruptionsfälle publik, die zwar meist in einem relativ kleinen Rahmen waren, trotzdem zersetzend wirken und womöglich Größeres verdecken könnten. In einem Fall etwa ging es um rechtswidrige Bereicherung bei der Versorgung mit Proviant, in einem anderen um Bekleidung. Im Herbst musste Verteidigungsminister Oleksii Resnikow wegen solcher Fälle zurücktreten, obwohl ihm selbst keine Beteiligung vorwerfbar war.
Beobachter berichten indes auch von anderen „Seltsamkeiten“. Etwa, dass Kommandeure von Infanterieeinheiten an der Front rückwärtigen Artillerieeinheiten bisweilen Geld zahlen, um Unterstützungsfeuer zu bekommen. Oder dass in großen Städten wie Kiew auffallend viele junge Männer im wehrfähigen Alter zu sehen sind, die gewöhnlichen Zivilberufen beispielsweise in der Gastronomie nachgehen und nicht eingezogen werden. Die Rede sei dann von amtlichen „Zertifikaten“, die ihnen bescheinigten, „systemrelevanten Tätigkeiten“nachzugehen. Insgesamt gelingt die Mobilisierung von personellen Reserven seit dem Vorjahr immer schlechter.
Unterdessen berichten US-Medien unter Berufung auf informierte Kreise, dass die USA an einem Strategiewechsel in der Kriegsführung der Ukrainer basteln. Demnach solle es nicht mehr um die Rückereroberung annektierten russischen Gebiets, sondern ums Halten der aktuellen Stellungen gehen. Parallel dazu soll das militärische und industrielle System des Landes so umgebaut und gestärkt werden, dass man noch weitere Jahre durchhalten könne.
Pragmatische Neuorientierung
Die Neuorientierung erscheint pragmatisch, weil die ukrainischen Kräfte erschöpft sind. Allerdings kann Präsident Wolodymyr Selenkij dann sein Mantra nicht mehr recht durchhalten, dass man die Gebiete „bald“zurückholen werde.
Kurzfristig müssten die Ukrainer daher den Stellungsbau der Russen, der sogar kampfschwache und mäßig motivierte Kräfte in eine starke Position versetzt, kopieren. Gewisse Räume müsste man aufgeben. Ferner müssten große Mengen Munition aufgebaut werden, mehr Drohnen, ballistische Raketen, leichte Fahrzeuge, Geräte zur elektronischen Kriegsführung. Langfristige Maßnahmen sind etwa der Ausbau der Flugabwehr, der einheimischen Rüstungsindustrie, die man auf ein Niveau ähnlich Russlands bringen möchte, die Erholung der Schwer- und Elektroindustrie und Landwirtschaft, Sabotageaktionen in Russland.
Die Briten schlossen jüngst einen Zehnjahresplan zur Unterstützung der Ukraine, Frankreich dürfte folgen. In Bezug auf die USA, dem wichtigsten Unterstützer Kiews, müssten die Maßnahmen indes so gestaltet werden, dass sie im Fall einer Wiederwahl von Donald Trump heuer als Präsident den Wechsel von Joe Biden weg überleben. Letzterer will seinen Zehnjahresplan für die Ukraine im Frühjahr vorstellen. Widerstand im republikanisch dominierten Kongress ist garantiert.
Trump hatte vor Monaten getönt, er könne den Ukrainekrieg „binnen 24 Stunden beenden“. Wie, sagte er freilich nicht.