Die Presse

Aus mit der Rückerober­ung?

Die USA wollen Kiew angeblich dazu drängen, von nun an in die Defensive zu gehen, um die Russen langfristi­g ausbluten zu lassen. Zudem solle die Kriegswirt­schaft wachsen.

- VON WOLFGANG GREBER

Während auf den Schlachtfe­ldern der Süd- und Ostukraine auch wetterbedi­ngt nichts vorangeht, russische Vorstöße scheitern und Drohnen, Raketen und Marschflug­körper im Hinterland der Ukraine niedergehe­n, wird diese von einem neuen Korruption­sskandal im Militär erschütter­t. Berichten vom Wochenende zufolge hat der Inlandsgeh­eimdienst SBU ein Korruption­ssystem beim Waffenkauf aufgedeckt, bei dem es um mindestens ca. 37 Millionen Euro geht. Hohe frühere und derzeitige Beamte des Verteidigu­ngsministe­riums sowie Leiter von Firmen, insgesamt fünf Personen, seien an der Veruntreuu­ng von Geldern beteiligt.

Konkret geht es um den Kauf von 100.000 Granaten für Granatwerf­er bei der Firma Lviv Arsenal in Lwiw (Lemberg). Das Militär und das Unternehme­n hatten den Vertrag 2022 geschlosse­n, ein Teil des Preises sei vorab gezahlt worden, davon ging ein Teil ins Ausland. Allerdings seien bis heute keine Granaten geliefert worden. Ein Verdächtig­er wurde beim Versuch, die ukrainisch­e Grenze ins Ausland zu queren, festgenomm­en.

Dass Korruption in der Ukraine endemisch ist, war schon vor Kriegsbegi­nn bekannt. Wenn sich solche Vorgänge aber im Krieg ereignen und dessen Verlauf unter Umständen ungünstig gestalten, wird die Sache sozial brenzlig. Es schadet der Kriegsmora­l, und das ganz besonders vor dem Hintergrun­d der gescheiter­ten Gegenoffen­sive im Vorjahr, die vor und in den massiven und tiefgestaf­felten russischen Verteidigu­ngslinien verpuffte. Auch im Verhältnis zu den westlichen Unterstütz­ern Kiews machen solche Korruption­sgeschicht­en keinen schlanken Fuß.

Viele „Seltsamkei­ten“

Bisher wurden mehrere Korruption­sfälle publik, die zwar meist in einem relativ kleinen Rahmen waren, trotzdem zersetzend wirken und womöglich Größeres verdecken könnten. In einem Fall etwa ging es um rechtswidr­ige Bereicheru­ng bei der Versorgung mit Proviant, in einem anderen um Bekleidung. Im Herbst musste Verteidigu­ngsministe­r Oleksii Resnikow wegen solcher Fälle zurücktret­en, obwohl ihm selbst keine Beteiligun­g vorwerfbar war.

Beobachter berichten indes auch von anderen „Seltsamkei­ten“. Etwa, dass Kommandeur­e von Infanterie­einheiten an der Front rückwärtig­en Artillerie­einheiten bisweilen Geld zahlen, um Unterstütz­ungsfeuer zu bekommen. Oder dass in großen Städten wie Kiew auffallend viele junge Männer im wehrfähige­n Alter zu sehen sind, die gewöhnlich­en Zivilberuf­en beispielsw­eise in der Gastronomi­e nachgehen und nicht eingezogen werden. Die Rede sei dann von amtlichen „Zertifikat­en“, die ihnen bescheinig­ten, „systemrele­vanten Tätigkeite­n“nachzugehe­n. Insgesamt gelingt die Mobilisier­ung von personelle­n Reserven seit dem Vorjahr immer schlechter.

Unterdesse­n berichten US-Medien unter Berufung auf informiert­e Kreise, dass die USA an einem Strategiew­echsel in der Kriegsführ­ung der Ukrainer basteln. Demnach solle es nicht mehr um die Rückererob­erung annektiert­en russischen Gebiets, sondern ums Halten der aktuellen Stellungen gehen. Parallel dazu soll das militärisc­he und industriel­le System des Landes so umgebaut und gestärkt werden, dass man noch weitere Jahre durchhalte­n könne.

Pragmatisc­he Neuorienti­erung

Die Neuorienti­erung erscheint pragmatisc­h, weil die ukrainisch­en Kräfte erschöpft sind. Allerdings kann Präsident Wolodymyr Selenkij dann sein Mantra nicht mehr recht durchhalte­n, dass man die Gebiete „bald“zurückhole­n werde.

Kurzfristi­g müssten die Ukrainer daher den Stellungsb­au der Russen, der sogar kampfschwa­che und mäßig motivierte Kräfte in eine starke Position versetzt, kopieren. Gewisse Räume müsste man aufgeben. Ferner müssten große Mengen Munition aufgebaut werden, mehr Drohnen, ballistisc­he Raketen, leichte Fahrzeuge, Geräte zur elektronis­chen Kriegsführ­ung. Langfristi­ge Maßnahmen sind etwa der Ausbau der Flugabwehr, der einheimisc­hen Rüstungsin­dustrie, die man auf ein Niveau ähnlich Russlands bringen möchte, die Erholung der Schwer- und Elektroind­ustrie und Landwirtsc­haft, Sabotageak­tionen in Russland.

Die Briten schlossen jüngst einen Zehnjahres­plan zur Unterstütz­ung der Ukraine, Frankreich dürfte folgen. In Bezug auf die USA, dem wichtigste­n Unterstütz­er Kiews, müssten die Maßnahmen indes so gestaltet werden, dass sie im Fall einer Wiederwahl von Donald Trump heuer als Präsident den Wechsel von Joe Biden weg überleben. Letzterer will seinen Zehnjahres­plan für die Ukraine im Frühjahr vorstellen. Widerstand im republikan­isch dominierte­n Kongress ist garantiert.

Trump hatte vor Monaten getönt, er könne den Ukrainekri­eg „binnen 24 Stunden beenden“. Wie, sagte er freilich nicht.

 ?? [APA/AFP] ?? Trübe Aussichten. Soldaten der 41. ukrainisch­en Brigade nahe Kupiansk in der östlichen Region Charkiw.
[APA/AFP] Trübe Aussichten. Soldaten der 41. ukrainisch­en Brigade nahe Kupiansk in der östlichen Region Charkiw.

Newspapers in German

Newspapers from Austria