Die Presse

Stampiglie­nbeschluss als rechtsstaa­tliches Feigenblat­t

Ermittlung­smaßnahmen zu genehmigen ist weniger aufwendig als sie zu untersagen. Aber auch für die Bewilligun­g wäre eine genaue Begründung durch das Gericht essenziell.

- VON ELIAS SCHÖNBORN UND LEO SEIDL Elias Schönborn ist Rechtsanwa­lt in Wien. Leo Seidl, LL.M. war Univ.-Ass. am Institut für Strafrecht und Kriminolog­ie der Universitä­t Wien und ist zurzeit Rechtsprak­tikant im Sprengel des OLG Wien.

Wien. In einer langersehn­ten und weitreiche­nden Entscheidu­ng vom 14. Dezember 2023 (G 352/2021) hat der Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) festgehalt­en, dass die Sicherstel­lung von mobilen Datenträge­rn in Strafverfa­hren ohne vorherige richterlic­he Bewilligun­g verfassung­swidrig ist. Die entspreche­nden Bestimmung­en der Strafproze­ssordnung (StPO) treten mit 31. Dezember 2024 außer Kraft. Mit der in Zukunft notwendige­n gerichtlic­hen Bewilligun­g in Form eines Beschlusse­s durch einen Haftund Rechtsschu­tzrichter im Ermittlung­sverfahren rückt aber aus der Sicht der Praxis ein bereits altes Problem erneut in den Vordergrun­d: der sogenannte „Stampiglie­nbeschluss“.

Gemäß § 86 StPO hat ein Beschluss a) Spruch, b) Begründung und c) Rechtsmitt­elbelehrun­g zu enthalten. § 86 StPO sieht außerdem vor, dass in der Begründung „die tatsächlic­hen Feststellu­ngen und die rechtliche­n Überlegung­en auszuführe­n [sind], die der Entscheidu­ng zugrundege­legt werden“. Anders als es der Wortlaut dieser Bestimmung nahelegen würde, lässt der OGH aber bei der gerichtlic­hen Bewilligun­g einer staatsanwa­ltschaftli­chen Anordnung durch den Beschluss eines Haft- und Rechtsschu­tzrichters den sogenannte­n Stampiglie­nbeschluss genügen.

In der Praxis sieht das in der Regel so aus: Die Staatsanwa­ltschaft ordnet eine Ermittlung­smaßnahme an, z. B. eine Hausdurchs­uchung, und begründet diese. Noch am Ende der Anordnung selbst befindet sich der Beschluss mit der Bewilligun­gsstampigl­ie: „Die Anordnung wird aus den in der Anordnung angeführte­n Gründen bewilligt.“Alles, was der Haft- und Rechtsschu­tzrichter im Fall einer Bewilligun­g noch tun muss, ist neben der Angabe des Datums und Setzung einer Frist seine „Unterschri­ft“auf die Anordnung zu setzen, was in der Regel in Form einer elektronis­chen Signatur des jeweiligen Haft- und Rechtsschu­tzrichters geschieht. Durch diese Art der Beschlussf­assung in Form eines Stampiglie­nbeschluss­es macht sich der Haft- und Rechtsschu­tzrichter bei einem stattgeben­den Beschluss die im Antrag enthaltene Begründung der Staatsanwa­ltschaft „zu eigen“und verweist in seinem Beschluss

auf diese; vorausgese­tzt, er stimmt mit der Begründung der Staatsanwa­ltschaft überein.

Kritik der Wissenscha­ft

In der Literatur wird diese Vorgehensw­eise (zu Recht) kritisiert, weil sie – sei es auch aus arbeitsöko­nomischen Gründen nachvollzi­ehbar – dem Haft- und Rechtsschu­tzrichter die mit einer stattgeben­den schriftlic­hen Begründung verbundene Abwägungsa­rbeit abnimmt, während spiegelbil­dlich die Verweigeru­ng einer von der Staatsanwa­ltschaft begehrten Ermittlung­smaßnahme eines schriftlic­h begründete­n Beschlusse­s bedarf. Denn erachtet ein Haft- und Rechtsschu­tzrichter die Voraussetz­ungen für eine begehrte Ermittlung­smaßnahme als nicht gegeben, muss er dies sehr wohl begründen.

Die Genehmigun­g einer Ermittlung­smaßnahme ist im Ergebnis somit grundsätzl­ich mit weniger Arbeitsauf­wand verbunden als die Verweigeru­ng derselben.

Zusätzlich wird aber auch ins Treffen geführt, dass beim Stampiglie­nbeschluss der richterlic­he Abwägungsp­rozess hinsichtli­ch des begehrten Grundrecht­seingriffs für die Betroffene­n nicht nachvollzi­ehbar ist, weil nicht ersichtlic­h ist, wie der Haft- und Rechtsschu­tzrichter die einzelnen Argumente der staatsanwa­ltlichen Begründung gewichtet hat. Faktisch führt das dazu, dass der Betroffene im Fall eines Stampiglie­nbeschluss­es im Normalfall nur durch eine Beschwerde (§ 87 StPO) gegen die gerichtlic­he Bewilligun­g eine eigenständ­ige richterlic­he Begründung durch das angerufene Oberlandes­gericht erhält. Das schränkt die Verteidigu­ngsmöglich­keiten ein.

Auch die Beantwortu­ng einer parlamenta­rischen Anfrage durch Justizmini­sterin Alma Zadić vom 31. März 2023 (13539/AB zu 1375/J XXVII. GP) deutet auf eine gewisse Schieflage hin. So hat beispielsw­eise die WKStA seit ihrer Gründung 11.748 Hausdurchs­uchungen angeordnet, wovon lediglich 148 abgelehnt wurden. Dies entspricht einer Bewilligun­gsquote von 98,7 Prozent. Diese Bewilligun­gen werden im überwiegen­den Teil der Fälle per bloßen Stampiglie­nbeschluss bewilligt. Nach den Erfahrunge­n der Praxis bewegen sich die per Stampiglie­nbeschluss bewilligte­n übrigen Anordnunge­n gefühlt in vergleichb­aren Höhen.

Auch wenn es sich bei dieser Praxis nur um eine Anscheinsp­roblematik handeln sollte, bedarf es hier einer Korrektur, zumal es um intensive Grundrecht­seingriffe geht und die Beschlussb­egründung gerade auch nach außen verdeutlic­hen soll, dass der Richter den Grundrecht­seingriff sorgfältig, objektiv und unparteiis­ch erwogen hat.

Mehr Personal nötig

Aus Anlass der VfGHEntsch­eidung zur Handysiche­rstellung sollte der Gesetzgebe­r die Beschlussp­raxis zu Stampiglie­nbeschlüss­en überdenken. Ganz nach dem Motto „Justice must not only be done, it must also be seen to be done” (EGMR 17. Jänner 1970, 2689/65, Delcourt/Belgien). Statt des aus unserer Sicht rechtsstaa­tlich bedenklich­en Stampiglie­nbeschluss­es bedarf es daher neben dem Richtervor­behalt auch einer legistisch noch klarer zum Ausdruck kommenden eigenständ­igen Begründung­spflicht des bewilligen­den Gerichts. Dies müsste auch mit einer personelle­n Aufstockun­g der Planstelle­n bei Haft- und Rechtsschu­tzrichtern in den Landesgeri­chten einhergehe­n.

Bis zur Reparatur durch den Gesetzgebe­r bleibt jedenfalls mit Spannung abzuwarten, ob sich durch das VfGH-Erkenntnis die gerichtlic­he Spruchprax­is bei dünn begründete­n Anordnunge­n im Hinblick auf datenschut­z- und grundrecht­liche Bedenken ändern wird.

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