Volksoper: Warum diese Eile?
Musical. Die „West Side Story“, inszeniert von Lotte de Beer, dirigiert von Ben Glassberg, ist voller Tempo, Tanz und jugendlicher Energie. Musik und Emotion bleiben auf der Strecke.
Ich weiß nicht warum, es ist alles so schnell passiert“: Chino stößt diese Worte hervor, wenn er Maria die Schreckensnachricht vom Tod ihres Bruders Bernardo überbringt. Die Spirale der Gewalt zwischen den Jugendgangs von „Sharks“und „Jets“wird sich weiter drehen, das Liebesglück von Maria und Tony keine Chance haben …
Chinos gestammelter Satz – gesprochen werden deutsche Dialoge, gesungen wird Englisch – bleibt einem in Erinnerung, jenseits des einhelligen Publikumsjubels nach dieser Premiere von Leonard Bernsteins „West Side Story“an der Volksoper. Denn „schnell“, das ist hier eines der Stichworte – sowie leider auch ein „Nichtwissen, warum“.
Beachtliche Choerografien
Die Schnelligkeit erfreut bei den flotten Szenenwechseln. Vor der schwarzen Wand auf der Drehbühne bleibt genügend Entfaltungsspielraum für die energiereichen Choreografien: Die im Stück puerto-ricanischen, hier glaubwürdig ethnisch diverser besetzten „Sharks“tendieren dabei zur Geschmeidigkeit lateinamerikanischer Standards; die „Jets“hingegen grenzen sich durch „cooleren“, härteren, kantigeren Stil davon ab. Da leistet die Besetzung Beachtliches – und markiert damit zweifellos auch den Höhepunkt der Produktion.
Musikalisch und szenisch geht es einem hingegen in vielen Belangen wie Chino: Man weiß nicht, warum. Warum zum Beispiel hat es Dirigent Ben Glassberg, seit Jahresbeginn Omer Meir Wellbers Nachfolger als Musikdirektor des Hauses, gar so eilig? Schon richtig: Man muss die Partitur nicht unbedingt so hyperexpressiv durchkneten und geradezu auspressen, wie Bernstein es selbst getan hat in seiner späten, mit Opernstars besetzten Aufnahme des Werks. Aber man nehme nur den Blues am Beginn des Balls: Um wie viel lässiger, stärker klingt der in Bernsteins breitem Tempo – und wie rasch, leichtgewichtig und unbemerkt zieht er hier vorüber?
Schwung und Swing lassen sich eben nur sehr bedingt mit dem Metronom messen – und schon gar nicht mit höherer Schlagzahl linear steigern. Überhaupt unterstützt die unausgeglichene Klangregie vor allem das Schlagzeug. Über weite Strecken dröhnt der Rhythmus, während die Harmonien oft nur erahnbar sind und den kantablen Linien der Raum zur Entfaltung fehlt. Dabei hat Glassberg im Interview mit der „Presse“erwähnt, dass er die Streicherbesetzung von zwölf auf 25 aufgestockt habe, analog zu Bernsteins Einspielung. Nicht auszudenken, wie es ohne geklungen hätte. Hinzu kommt, dass das gesamte hoch ambitionierte Ensemble offenbar vor allem nach Erscheinung und tänzerischer Befähigung zusammengestellt worden ist, nicht nach vokaler Eignung.
Ein Tony wie Anton Zetterholm passt in dieses von Äußerlichkeiten bestimmte Schema: Seine Beltstimme trägt, aber dieses hauchige Vibrato als einzige Vortragsvariante und die mehrmals nur mit Fragezeichen getroffenen Falsetttöne verkaufen die Partie unter Wert. Dagegen verbreitet Jaye Simmons als Maria, aus dem Opernstudio der Volksoper geholt, mit ihrem etwas bibbernden, aber gleichmäßig durchgebildeten Sopran beinah einen Hauch von Luxus.
Romeo und Julia ganz kleinbürgerlich
Doch warum nimmt man nicht wirklich Anteil am Schicksal der beiden, warum hat der Abend Längen und wirkt die Lovestory zugleich eilig durchgepeitscht? Regisseurin Lotte de Beer gelingen die besten Momente dort, wo sie bei Themen wie Rassismus und Gewalt gegen Frauen gleichsam die Lautstärke aufdreht. Das Ganze schwächelt dafür beim emotionalen Kern: Der Romeo-undJulia-Konstellation fehlt Zeit für Lyrik, für emotionale Gravitas. Zum utopischen „Somewhere“Maria und Tony vom Kleinbürgerfamilienglück im Reihenhaus samt singendem Kind träumen zu lassen wirkt fast wie ein allzu routinierter und prompt versagender Druck auf die Tränendrüse.
Akustisch wie szenisch wirkt diese neue „West Side Story“unangenehm hohl, wie eine knackig aufgepeppte Hülle ohne Kern. Warum nur?