Die Presse

Volksoper: Warum diese Eile?

Musical. Die „West Side Story“, inszeniert von Lotte de Beer, dirigiert von Ben Glassberg, ist voller Tempo, Tanz und jugendlich­er Energie. Musik und Emotion bleiben auf der Strecke.

- VON WALTER WEIDRINGER

Ich weiß nicht warum, es ist alles so schnell passiert“: Chino stößt diese Worte hervor, wenn er Maria die Schreckens­nachricht vom Tod ihres Bruders Bernardo überbringt. Die Spirale der Gewalt zwischen den Jugendgang­s von „Sharks“und „Jets“wird sich weiter drehen, das Liebesglüc­k von Maria und Tony keine Chance haben …

Chinos gestammelt­er Satz – gesprochen werden deutsche Dialoge, gesungen wird Englisch – bleibt einem in Erinnerung, jenseits des einhellige­n Publikumsj­ubels nach dieser Premiere von Leonard Bernsteins „West Side Story“an der Volksoper. Denn „schnell“, das ist hier eines der Stichworte – sowie leider auch ein „Nichtwisse­n, warum“.

Beachtlich­e Choerograf­ien

Die Schnelligk­eit erfreut bei den flotten Szenenwech­seln. Vor der schwarzen Wand auf der Drehbühne bleibt genügend Entfaltung­sspielraum für die energierei­chen Choreograf­ien: Die im Stück puerto-ricanische­n, hier glaubwürdi­g ethnisch diverser besetzten „Sharks“tendieren dabei zur Geschmeidi­gkeit lateinamer­ikanischer Standards; die „Jets“hingegen grenzen sich durch „cooleren“, härteren, kantigeren Stil davon ab. Da leistet die Besetzung Beachtlich­es – und markiert damit zweifellos auch den Höhepunkt der Produktion.

Musikalisc­h und szenisch geht es einem hingegen in vielen Belangen wie Chino: Man weiß nicht, warum. Warum zum Beispiel hat es Dirigent Ben Glassberg, seit Jahresbegi­nn Omer Meir Wellbers Nachfolger als Musikdirek­tor des Hauses, gar so eilig? Schon richtig: Man muss die Partitur nicht unbedingt so hyperexpre­ssiv durchknete­n und geradezu auspressen, wie Bernstein es selbst getan hat in seiner späten, mit Opernstars besetzten Aufnahme des Werks. Aber man nehme nur den Blues am Beginn des Balls: Um wie viel lässiger, stärker klingt der in Bernsteins breitem Tempo – und wie rasch, leichtgewi­chtig und unbemerkt zieht er hier vorüber?

Schwung und Swing lassen sich eben nur sehr bedingt mit dem Metronom messen – und schon gar nicht mit höherer Schlagzahl linear steigern. Überhaupt unterstütz­t die unausgegli­chene Klangregie vor allem das Schlagzeug. Über weite Strecken dröhnt der Rhythmus, während die Harmonien oft nur erahnbar sind und den kantablen Linien der Raum zur Entfaltung fehlt. Dabei hat Glassberg im Interview mit der „Presse“erwähnt, dass er die Streicherb­esetzung von zwölf auf 25 aufgestock­t habe, analog zu Bernsteins Einspielun­g. Nicht auszudenke­n, wie es ohne geklungen hätte. Hinzu kommt, dass das gesamte hoch ambitionie­rte Ensemble offenbar vor allem nach Erscheinun­g und tänzerisch­er Befähigung zusammenge­stellt worden ist, nicht nach vokaler Eignung.

Ein Tony wie Anton Zetterholm passt in dieses von Äußerlichk­eiten bestimmte Schema: Seine Beltstimme trägt, aber dieses hauchige Vibrato als einzige Vortragsva­riante und die mehrmals nur mit Fragezeich­en getroffene­n Falsetttön­e verkaufen die Partie unter Wert. Dagegen verbreitet Jaye Simmons als Maria, aus dem Opernstudi­o der Volksoper geholt, mit ihrem etwas bibbernden, aber gleichmäßi­g durchgebil­deten Sopran beinah einen Hauch von Luxus.

Romeo und Julia ganz kleinbürge­rlich

Doch warum nimmt man nicht wirklich Anteil am Schicksal der beiden, warum hat der Abend Längen und wirkt die Lovestory zugleich eilig durchgepei­tscht? Regisseuri­n Lotte de Beer gelingen die besten Momente dort, wo sie bei Themen wie Rassismus und Gewalt gegen Frauen gleichsam die Lautstärke aufdreht. Das Ganze schwächelt dafür beim emotionale­n Kern: Der Romeo-undJulia-Konstellat­ion fehlt Zeit für Lyrik, für emotionale Gravitas. Zum utopischen „Somewhere“Maria und Tony vom Kleinbürge­rfamilieng­lück im Reihenhaus samt singendem Kind träumen zu lassen wirkt fast wie ein allzu routiniert­er und prompt versagende­r Druck auf die Tränendrüs­e.

Akustisch wie szenisch wirkt diese neue „West Side Story“unangenehm hohl, wie eine knackig aufgepeppt­e Hülle ohne Kern. Warum nur?

 ?? [Marco Sommer/Volksoper Wien] ?? In den Choreograf­ien trumpft das Ensemble auf. Musikalisc­h und szenisch wirft die Produktion aber Fragen auf: Muss alles so schnell gehen?
[Marco Sommer/Volksoper Wien] In den Choreograf­ien trumpft das Ensemble auf. Musikalisc­h und szenisch wirft die Produktion aber Fragen auf: Muss alles so schnell gehen?

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