Vom Überleben auf der Straße
In Nigerias Megacity Lagos gibt es 100.000 obdachlose Kinder. Ihnen gibt der Sozialarbeiter Pater Linus Onyenagubor neue Perspektiven.
Ihr Traum ist es, in der Metropole Lagos Geld zu verdienen und ein sorgloses Leben zu führen. Täglich kommen Kinder in die Megacity an der Küste Nigerias. Doch anstelle der Erfüllung ihrer Wünsche erwartet sie ein hartes Leben auf der Straße. Rund 100.000 Straßenkinder gibt es in der zweitgrößten Stadt Afrikas. Sie schlafen unter Brücken, durchstöbern Müll nach Essbarem, werden betteln geschickt und verprügelt.
Eine Anlaufstelle für Straßenkinder in Lagos ist Linus Valentine Onyenagubor. Der 39-Jährige ist Streetworker und Pater des Ordens der Salesianer Don Bosco. Er geht dorthin, wo sich die Kinder aufhalten und wo sie sich tagsüber treffen. Er versucht mit ihnen Gespräche zu führen und Freundschaften zu schließen. „Jedes Kind kommt mit so vielen Träumen in die Stadt“, sagt er. „Sie haben aber niemanden, der sie begleitet.“
Es ist vor allem Armut, die Kinder in die Stadt treibt. Sie reißen von zu Hause aus, weil ihre Eltern keine Jobs haben, manchmal spielt Gewalt in der Familie mit, oft sind ihre Eltern geschieden und mit dem Stiefvater oder der -mutter gibt es Schwierigkeiten. Geld, um den Kindern einen Schulbesuch zu ermöglichen, hat von diesen Familien kaum eine. Das glitzernde Lagos lockt mit seinen Reichen und Schönen. Doch die Realität in der 15-Millionen-Einwohner-Stadt ist eine andere.
„Einmal auf der Straße, werden sie von Erwachsenen ausgenutzt“, sagt Linus Onyenagubor im Gespräch
mit der „Presse“. Es sei eine Art Mafia, die das Leben der Kinder bestimme und sie instrumentalisiere, sagt er. Diese Gangs kontrollieren die Mädchen und Buben und geben vor, was sie zu tun haben. Sie weisen ihnen Schlafplätze unter Brücken oder auf Gehsteigen zu. Im Gegenzug werden die Kinder zu Laufburschen, müssen kleine Jobs übernehmen, Wasserflaschen und Kaugummis verkaufen. Oft werden die Buben gezwungen, Drogen zu nehmen. Den Mädchen versprechen sie „Schutz“im harten Überlebenskampf – allerdings gegen Sex, oder sie zwingen sie zur Prostitution. Schläge und Drohungen stehen auf der Tagesordnung.
„Sie rauchen harte Drogen“
„Die Straße ist gefährlich“, sagt Pater Linus. In Lagos gebe es Gegenden, da könne man sich nicht einfach so frei bewegen. Man müsse dazugehören und Teil einer Gruppe sein, um dort geduldet zu werden oder überleben zu können. „Die Kinder rauchen harte Drogen, sie trinken, sie belästigen.“Und sie würden immer wieder benutzt, um Unruhen in den Vierteln der Stadt zu stiften, etwa nach Wahlen.
Ruhe von der Straße
Linus Onyenagubors Ziel ist es, möglichst viele der Kinder zu erreichen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und ihnen neue Perspektiven aufzuzeigen. „Ich will den Kindern, die niemanden haben, Vertrauen schenken und für sie da sein“, sagt der 39-Jährige. Sie sollen ein Gefühl der Zughörigkeit bekommen. Vor allem will er verhindern, dass die Mädchen und Buben in die Kriminalität abrutschen.
Tagsüber können die Kinder in das Tagesheim kommen. Neben dem Priester sind dort weitere vier Mitarbeiter tätig. Die Kinder bekommen Kleidung, Essen – und ein wenig Ruhe vom anstrengenden Leben auf der Straße, wo sie immer wachsam sein müssen. Im Tagesheim können sie loslassen, spielen, fernsehen, duschen, ihre Kleidung waschen und Gespräche führen. Alkohol, Drogen und Gewalt werden nicht toleriert.
Mehr Schlafplätze für Kinder
15 Kinder haben die Möglichkeit, dort auch zu übernachten. Derzeit wird ein größeres Zentrum gebaut, um 100 Kindern eine Schlafmöglichkeit zu bieten. Geld dafür kommt auch aus Österreich, von der Organisation Jugend eine Welt, auf deren Einladung Pater Linus Wien besuchte.
Vielen Kindern hat er schon geholfen, ihnen kleine Jobs besorgt oder einen Platz bei einer Pflegefamilie – wie einem zwölf Jahre alten Buben, der in einer Süßwarenfabrik ein bisschen Geld verdient und sich so die Schule leisten kann.
„Will ihre Mentalität ändern“
„Ich möchte die Mentalität der Kinder ändern“, sagt Onyenagubor. „Wir müssen ihnen klarmachen, dass das Leben ein Prozess ist. Alles braucht seine Zeit und Anstrengung.“Aber was auch er lernen musste: Nicht jedes Kind ist offen für Ratschläge. „Manche Kinder wollen einfach auf der Straße sein. Sie wollen nichts von anderen Perspektiven hören.“Ihnen müsse man das Leben lassen, das ihnen frei und unabhängig erscheint.