Historische „Schlamperei“um Sinners Heimatort
Mit Jannik Sinner gewann erstmals seit knapp 50 Jahren ein Italiener einen Grand-Slam-Titel im Einzel. Dass sein Heimatort nicht österreichisch ist, geht auf eine „Grenzverschiebung über Nacht“zurück. Eine Grenzdebatte.
Wien. Man muss kein großer Tennisfan und schon gar nicht historisch bewandert sein, um zu wissen: Österreich hat bisher zwei Grand-Slam-Sieger im Einzel hervorgebracht. Thomas Muster triumphierte 1995 in Paris und Dominic Thiem 2020 in New York. Bei großzügigerer Auslegung, also Doppel-, Mixed- und Juniorenbewerbe mitgezählt, kämen noch weitere Major-Champions hinzu, von Julian Knowle bis Jürgen Melzer. Das war es dann aber mit heimischen Siegen auf der größten Tennisbühne.
Was die wenigsten wissen: Historisch betrachtet ist Österreich vielleicht gar nicht so weit an einem weiteren Grand-Slam-Sieg vorbeigeschrammt. Hätte es da nicht vor gut hundert Jahren eine kleine „welthistorische Schlamperei“gegeben, nachzulesen im 1969 erschienenen Buch „Schöne Welt, böse Leut“des Journalisten Claus Gatterer. In seinen Kindheitserinnerungen erzählte er, wie sein Südtiroler Heimatort Sexten bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg „verspätet und völlig unerwartet“Italien zufiel.
Die Geschichte geht so: Eigentlich wäre Sexten nach dem Zerfall des Habsburgermonarchie auf österreichischem Territorium gewesen, „denn auch im Neunzehnerjahr wollten die Italiener die Grenze noch am Toblacher Sattel an der Wasserscheide haben.“Die Idee war eine Art natürlicher Grenze. Auch in den Jahren davor sei seitens Italiens „von Sexten keine Rede gewesen“, schrieb Gatterer. Nachsatz: „Bis dann ein Herr Salvatore Barzilai aus Triest (…) im letzten Moment
ein Memorandum auf den Tisch der Friedensschuster gelegt hatte, laut dem die Grenze (…) quer durchs Drautal gezogen werden sollte.“Der Abgeordnete verfolgte strategische Gründe und hatte in den Nachkriegswirren Glück, „denn in Saint Germain wusste man von Wasserscheiden und Sprachgrenzen offenbar nichts.“
Grenze, Geschichte – ihr Lauf
So seien Sexten, Innichen und andere Ortschaften „gewissermaßen über Nacht zu Italien gekommen“. Margareth Lanzinger, Professorin an der Uni Wien und selbst aus Sexten, bestätigt Gatterers Darstellung auf „Presse“-Anfrage. „Für die Weltgeschichte ist dies alles nebensächlich“, urteilte Gatterer übrigens in seinem Buch.
Für Österreichs jüngere Tennisgeschichte aber nicht unbedingt : Aus Sexten stammt nicht nur Gatterer, sondern auch Jannik Sinner, der sich vergangenen Sonntag nach einer knapp zwei Sätze andauernden Machtdemonstration Daniil Medwedews zurückgekämpft und in fünf Sätzen das Finale der Australian Open gewonnen hat. Der Sieg des 22-Jährigen war der erste Grand-Slam-Titel eines Italieners im Einzel seit fast fünf Jahrzehnten. Und es dürfte nicht der letzte gewesen sein. „Ich weiß, dass ich mich weiterentwickeln muss, wenn ich eine weitere Chance haben will, noch einmal einen so großen Pokal in den Händen zu halten. Und das will ich“, sagte Sinner.
Ob er ihn auch errungen hätte, wenn Barzilai 1919 der Weltpolitik keine Grenzverschiebung untergejubelt hätte, die Familie Sinner heute eine österreichische wäre? Das ist eine ganz andere Geschichte.