Luigi Nono zum Hunderter: Die Utopie lebt
Im Konzerthaus ließ das Minguet Quartett eine bessere Welt ertönen, mit „Fragmente – Stille, an Diotima“.
Wie spielt man das? Oder auch: Wie hört man das? Denn: Hören kann man vieles von dem auf gar keinen Fall, was Luigi Nono 1980 in die Partitur seines Streichquartetts „Fragmente – Stille, an Diotima“geschrieben hat, ja, soll es nicht hören. Mehr als 50 Zitate Friedrich Hölderlins übersäen zum Beispiel die Notenseiten. Sie dürfen, so der Komponist, „in keinem Falle während der Aufführung vorgetragen“oder „als naturalistischer, programmatischer Hinweis“gedeutet werden. Vielmehr seien sie „vielfältige Augenblicke, Gedanken, schweigende ‚Gesänge‘ aus anderen Räumen, anderen Himmeln“, „die Ausführenden mögen sie ‚singen‘“. Aber nur im Geiste, versteht sich …
Nonos Streichquartett ist eines der berühmtesten und meistdiskutierten Kammermusikwerke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und lässt eine Utopie Klang werden. Doch diese Utopie einer besseren Welt, für die der Künstler zuvor noch mit politischen Themen und Texten gekämpft hat, wird hier nur noch auf musikalischer Ebene abgehandelt. Ein Werk des Rückzugs, der intimen Bezüge, der hoch artifiziellen, zugleich expressiven Verweigerung. Der dreigliedrige Titel nennt die Bestimmungsstücke: „Fragmente“und „Stille“beziehen sich auf die immer wieder von langen Pausen unterbrochenen Neuansätze; zarte, verletzliche Gesten, Seufzer, Schmerzenslaute. Das Nichts zwischen ihnen, man weiß es aus der Musikgeschichte, gehört zur bewusst gehörten Musik. Und Diotima, ursprünglich die weise Frau aus Platons „Symposion“, heißt auch die Geliebte in der Lyrik Hölderlins, jenes Dichters, der sich – erkrankt oder aus freien Stücken – von der Welt abgewandt hat: für Nono ein politisches Statement.
Spielen in brennender Ruhe
Wie spielt man das – noch dazu genau an Nonos 100. Geburtstag? Das Minguet Quartett tat es im Mozartsaal mit brennender Ruhe, die auch durch eine kleine, rasch behobene Geigenhavarie nicht nachhaltig gestört wurde. Wie schon bei den Salzburger Festspielen 2020 schickten sie jene Werke voraus, die Nono unhörbar zitiert und in sein Quartett einarbeitet: die Ockeghem zugeschriebene Chanson „Malheur me bat“, Verdis „Ave Maria“aus den „Quattro pezzi sacri“, den „Heiligen Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit“aus Beethovens Opus 132. Mochten gerade bei diesem entrückten langsamen Satz einige hohe Töne etwas verrutscht sein: Man hörte den ganzen kurzen, intensiven Abend andächtig – und dankbar.