Warum Putin seinen Herausforderer so fürchtet
Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin hat ausreichend Unterschriften für eine Zulassung zur Präsidentenwahl eingereicht. Ob er antreten darf, ist fraglich. Für das Regime ist öffentlicher Dissens gefährlich.
105.000 Unterschriften sind es, die das Team von Boris Nadeschdin am Mittwoch in braunen Kartonboxen in die Zentrale Wahlkommission (ZIK) in Moskau getragen hat. Es ist der letzte Tag, an dem eine Registrierung als Kandidat für die Präsidentenwahlen im März möglich ist. „Wir haben es geschafft“, sagt Nadeschdin.
Der 60-Jährige trägt wie fast immer in der Öffentlichkeit sein blaukariertes TweedSakko, das den Eindruck eines gemütlichen älteren Herren noch verstärkt. Doch Nadeschdin – Physiker, Jurist und langjähriger pragmatischer Oppositionspolitiker – hat nicht die Pension vor Augen, sondern die Zentrale der russischen Macht: den Kreml. Er will regieren, will Präsident werden, will Putin ablösen. Das kündigt er zumindest an. Kein anderer Präsidentschaftskandidat tut das.
Nadeschdin will auch den Krieg gegen die Ukraine beenden und mit der Regierung in Kiew Friedensverhandlungen führen. Er will politische Gefangene in Russland freilassen, Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa und Ilja Jaschin nennt er beim Namen. Und er will die Demokratie nach Russland zurückbringen. Es sind Forderungen, die im Kriegsrussland von heute unerhört und verwegen klingen –und riskant noch dazu. Doch Nadeschdin hat offenbar einen Nerv in der Gesellschaft getroffen. Was sich rund um seine Kandidatur ereignet, ist eine Überraschung, ein kleiner Aufbruch. Menschen in ganz Russland haben für Nadeschdins Kandidatur unterschrieben, ihren Namen genannt, ihre Wohnadresse und Passdaten. Viele standen Schlange bei eisigen Temperaturen. Nun muss die ZIK bis 10. Februar entscheiden, ob Nadeschdin zur Wahl zugelassen wird. Das letzte Wort hat freilich der Kreml. Es ist davon auszugehen, dass die Bürokraten selbst von der Dynamik überrascht wurden. Nadeschdin galt als gemäßigter Oppositionspolitiker. Gefährlich wie Nawalny? Mitnichten. Dass ihn nun viele Menschen unterstützen, die mit der Linie des Kreml im weitesten Sinne unzufrieden sind, liegt weniger am Charisma Nadeschdins, als am Umstand, dass nur noch er übrig ist. „Es geht nicht um Sie persönlich“, sagte die für ihre spitzen Analysen bekannte russische Politologin Ekaterina Schulmann in einem Gespräch mit Nadeschdin. „Sie sind zum Fokus der Hoffnungen und Unzufriedenheiten der Menschen geworden, die sich isoliert und vereinzelt gefühlt haben.“
Wird der Kreml Nadeschdin zulassen? Eine Wahlteilnahme könnte letztlich auf eine Diskreditierung des Anti-Kriegs-Lagers zielen. Erhält der Putin-Herausforderer lediglich ein paar Prozentpunkte, wäre es für die Staatspropaganda ein Leichtes zu zeigen, wie schwach Putins Gegner sind. Andererseits wäre die Zulassung riskant. Nadeschdins Kandidatur würde Alternativen eröffnen. Öffentlicher Widerspruch zur Kreml-Politik ist nicht mehr erwünscht. Putins System muss fortwährend den Eindruck erzeugen, dass die Gesellschaft geschlossen hinter dem Führer steht. Schon die Bilder von den Schlangen für Nadeschdin kratzten an diesem Anspruch; sein Wahlkampf böte noch viel mehr Raum dazu. Der Politiker könnte die kommenden Wochen für seine „Gegenpropaganda“nutzen. Wahlkampfveranstaltungen würden so zu Protestversammlungen gegen den Krieg und Putin.
Lehre aus Belarus
Es ist schwer vorstellbar, dass der Machtapparat das gestatten wird. „Wehret den Anfängen“ist das Motto des Regimes in diesen Dingen. Schließlich hat Putin in Belarus vor knapp vier Jahren gesehen, wohin die Zulassung einer unterschätzten Volkskandidatin führen kann: zu einer Bürgerbewegung, die die Machtfrage stellt. Dieses Risiko wird man verhindern wollen. Dass dem Politiker nun der Status eines „ausländischen Agenten“droht, könnte ein erster Schritt in Richtung Demontage sein. Auch eine strafrechtliche Verfolgung scheint nicht ausgeschlossen. Anschuldigungen dieser Art lassen sich leicht zimmern.