Selmayr wechselt an die Uni Wien
Der umstrittene Vertreter der Kommission beendete am 31. Jänner seinen Turnus. Ab Herbst 2024 winkt eine „neue europäische Aufgabe“.
Wien/Brüssel. Mit Kontroversen und Konflikten hat Martin Selmayr reichlich Erfahrung: Als rechte Hand von Ex-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und ehemaliger Generalsekretär der Europäischen Kommission galt der deutsche Europarechtsexperte in den 2010er-Jahren als graue Eminenz der Brüsseler Behörde, ohne deren Zustimmung in Brüssel wenig bis gar nichts weiterging. Nach dem Wechsel an der Kommissionsspitze 2019 wechselte auch Selmayr das Betätigungsfeld und übernahm den Posten des EUBotschafters in Österreich, auf dem er im Lauf der vergangenen vier Jahre immer wieder für Schlagzeilen sorgte: Sein letztjähriger Vorwurf, die Bundesregierung würde mit den weiterlaufenden Gasimporten aus Russland ein „Blutgeld“an Machthaber Wladimir Putin entrichten, handelte Selmayr eine (bis dato einmalige) österreichische Beschwerde bei der EU-Kommission in Brüssel ein. Auch mit seinen öffentlichen Korrekturen überspitzter (innen-)politischer Behauptungen – etwa dass die EU den Österreichern das Bargeld verbieten wolle – machte sich der Kommissionsbeamte am Ballhausplatz alles andere als beliebt.
Gastprofessor für ein Semester
Mit derartigen Scharmützeln ist es vorerst vorbei: Selmayr beendete am 31. Jänner seine Tätigkeit an der Kommissionsvertretung in Wien, ab 1. Februar übernimmt er für sechs Monate eine Gastprofessur für Europarecht am Institut für Innovation und Digitalisierung im Recht der Universität Wien – die seine bisherigen Lehraufträge an der Universität Saarbrücken und der Donau-Universität Krems ergänzt.
Im nächsten halben Jahr wird er sich mit Themen wie der Datenschutz-Grundverordnung oder dem „AI Act“, der den Einsatz künstlicher Intelligenz in der EU regeln soll, wissenschaftlich befassen. Ab Herbst 2024 winkt eine „neue europäische Aufgabe“, die Selmayr am Mittwoch wegen einzuhaltender Fristenläufe (noch) nicht näher konkretisieren wollte. Die Pause von der Europapolitik wird also nicht allzu lang dauern. Die Leitung der Kommissionsvertretung geht nun interimistisch an Selmayrs Stellvertreter, Wolfgang Bogensberger. Wer Selmayr fix nachfolgt,
dürfte sich nach den Europawahlen im Juni entscheiden.
Trotz der oben erwähnten Misstöne zieht Selmayr gegenüber der „Presse“eine positive Bilanz der vergangenen vier Jahre. Die Zusammenarbeit mit der österreichischen Regierung sei trotz unterschiedlicher Positionen im manchen Bereichen – Stichwort Schengen-Erweiterung oder russisches Erdgas – konstruktiv gewesen, und die öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten seien Teil des Tagesgeschäfts. „Wenn jemand etwas Falsches sagt, ist es unsere Aufgabe, den Sachverhalt zurechtzurücken. Das darf man nicht persönlich nehmen, und man darf da auch nicht dünnhäutig sein.“
Positiv würdigt Selmayr jedenfalls den jüngsten Schwenk Österreichs bei der Blockade des Beitritts von Bulgarien und Rumänien zur Schengen-Zone, die Wien mit Versäumnissen bei der EU-Migrationspolitik begründet – die beiden EU-Mitglieder sollen nun im Luft- und Schiffsverkehr Schengen beitreten dürfen. An der Ausarbeitung dieses Kompromisses war Selmayr nach eigener Auskunft sogar direkt beteiligt und hat mit österreichischen Vertretern Konsultationen geführt, um den größtmöglichen gemeinsamen Nenner zwischen Wien, Brüssel, Bukarest und Sofia zu finden.
FPÖ immer extremer
Was den Vormarsch der Rechtspopulisten anbelangt, denen bei den Europawahlen Mandatsgewinne prognostiziert werden, ortet Selmayr eine innereuropäische Zweiteilung: „In Deutschland und Österreich habe ich den Eindruck, dass sich die Rechtsextremen immer mehr ins Extreme entwickeln. In Frankreich und Italien geht es in die entgegengesetzte Richtung. Wenn die Alternative
für Deutschland selbst der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen zu extrem ist, dann sollte einem das zu denken geben.“Die FPÖ unter Herbert Kickl verortet Selmayr jedenfalls näher bei der AfD als bei Le Pen oder der italienischen Premierministerin, Giorgia Meloni. Die Freiheitlichen hätten zwar auf regionaler und lokaler Ebene ein breites inhaltliches Spektrum, das sowohl konservative als auch sozialpolitisch linke Positionen umfasse – doch „viele von Kickls Äußerungen fallen ins rechtsextreme Eck und liegen inhaltlich nahe der AfD. Und am Ende muss man die FPÖ an dem messen, was ihr Obmann sagt.“
Dass die Freiheitlichen Selmayrs Abschied nicht betrauern, liegt auf der Hand. „Der Abgang dieses sich wie ein EU-Kolonialverwalter gerierenden Propagandisten der Brüsseler Eliten war längst überfällig und ist alles andere als ein Verlust für Österreich“, ließ FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz per Aussendung wissen.