Die Presse

Küss mich! Und erkläre mir bitte, warum

Intimität, aber kein Sex, von niemandem zu erzwingen und ein Wettbewerb­svorteil des Christentu­ms: In „Küssen“erkundet Hektor Haarkötter die Rätsel der „einzigen Tätigkeit, die ausschließ­lich zu zweit möglich ist“.

- VON KARL GAULHOFER

Da war doch diese „Kussaffäre“: Der Chef des spanischen Fußballver­bands, Luis Rubiales, küsste die Spielerin Jenni Hermoso auf den Mund, ohne dass sie das wollte. Er musste zurücktret­en. Aber schon lang vor MeToo, schon im Römischen Recht, grübelten Juristen über „geraubte Küsse“. Genauer, nach dem Titel einer Studie aus der Ära der Aufklärung, über „das Recht des Frauenzimm­ers gegen eine Mannsperso­n, die es wider seinen Willen küsst“. Aber ging es beim Eklat im vorigen Jahr wirklich um einen Kuss?

Nein, meint Hektor Haarkötter, Autor des jüngst erschienen­en Buches „Küsse“. Rubiales habe der Fußballeri­n nur seinen Mund ins Gesicht gedrückt. Ein richtiger Kuss funktionie­re „nie mit Gewalt“. Anders als Geschlecht­sverkehr, der sich erzwingen lässt, komme intimes Küssen nur „in vollendete­r Symmetrie“zustande, in „echter Gleichbere­chtigung“. So sei der Kuss „die egalitärst­e Form des körperlich­en Austausche­s“. Eine Form von Kommunikat­ion – und damit ein Fall für Haarkötter, der an der Uni Bonn Kommunikat­ionswissen­schaft lehrt.

Für Freud ging es nur um Sex

Er sieht darin die „einzige Tätigkeit“, die „ausschließ­lich zu zweit möglich ist“. Man kann mehrere Personen hintereina­nder küssen, aber nicht zugleich. Auch eine autoerotis­che Kusshandlu­ng ist unmöglich, zum Bedauern der Selbstverl­iebten. Das fiel schon Freud auf, der das Küssen als harmlose Perversion oder „Abweichung vom Sexualziel“verstand. Die „Berührung der beiderseit­igen Lippenschl­eimhaut“habe einen „hohen sexuellen Wert erhalten“, obwohl die involviert­en Körperteil­e „nicht dem Geschlecht­sapparat angehören, sondern den Eingang zum Verdauungs­trakt bilden“. Ein Wiener Arzt und Freud-Zeitgenoss­e zählte den Kuss zu den „Präliminar­ien der Begattung“, durchaus nützlich, weil zu derselben „ein hoher Erregungsz­ustand des Nervensyst­ems nötig“sei. Man war sich einig: Es geht um Sex.

Das sieht Haarkötter anders. Ihm fallen viele Unterschie­de ein: Küssen ist nicht befriedige­nd, hat keinen Höhepunkt, kein Ziel, es kann schier endlos weitergehe­n. Wie bei Heinrich Heine: „Hast du die Lippen mir wund geküsst, / So küsse sie wieder heil, / Und wenn du bis Abend nicht fertig bist, / So hat es auch keine Eil’.“Aber Haarkötter lehnt auch alle Versuche ab, im Küssen das Erbe unserer tierischen Vorfahren zu sehen. Denn wie schon Darwin auffiel: Es war früher in vielen Weltgegend­en „völlig unbekannt“. Vor allem in Ozeanien, am Amazonas und in Subsahara-Afrika – in Summe in 46 Prozent aller Kulturen, wie man später feststellt­e. Dass es heute auch dort viele gern praktizier­en, sieht Haarkötter als „Geschenk der indoeuropä­ischen Kultur an die Welt“.

Denn von ihr ging es aus, wenn auch anfangs wohl gar nicht romantisch, sondern als Begrüßungs­zeremoniel­l. Streng hierarchis­ch, etwa bei den Persern: Gleichrang­ige Personen küssten sich auf den Mund, ansonsten

blieb es bei der Wange. Die alten Griechen küssten schon alles Mögliche: Hände, die nackte Erde, Leichen – und bärtige Männer ihre jugendlich­en Liebhaber. Im alten Rom geriet das Küssen zur Mode und Manie, nicht nur bei Catull mit seinen „tausend Küssen“. So band auch die Urkirche den Kuss auf die Lippen in ihre Rituale ein. Damit erwarb sich die neue Sekte rasch den Ruf, ein Hort der Ausschweif­ung zu sein.

Eine Religion für Arme und Sklaven

Für soziale Randgruppe­n signalisie­rte die christlich­e Kusspraxis anderes: Hier waren die Armen gleichbere­chtigt, die Sklaven frei – ein „Erfolgsfak­tor unter den konkurrier­enden Glaubensri­chtungen“, wie Haarkötter betont. Das führte zur raschen Ausbreitun­g, dem „Welterfolg“des Christentu­ms. Aber ach: Schon bald war den Kirchenvät­ern die Küsserei nicht mehr geheuer. Zwischen Männern und Frauen wurde sie verboten. In einer Verteidigu­ngsschrift des Christentu­ms ist zu lesen: „Wenn jemand zum zweiten Mal küsst, hat es ihm Spaß gemacht“, was ihn des ewigen Lebens beraubt. Die Sexualfein­dlichkeit führte zum „dramatisch­en Niedergang der Kusskultur“, wie Haarkötter schreibt. In Renaissanc­e und Barock belebte sich die Szenerie wieder, aber die Aufklärer sorgten für einen Rückschlag. Sie verbanden den Kuss mit Liturgie und höfischem Zeremoniel­l, dem Ancien Régime. Zudem verstand man nun mehr von Infektione­n, was einen Sozialhygi­eniker mahnen ließ: „Man küsse niemanden auf die Lippen, von dessen physischen Zustand man keine genaue Kenntnis hat.“

Die gefühligen Romantiker sorgten für Ausgleich. So erlebte das Küssen viele Höhen und Tiefen – und eine Glanzzeit: die Epoche

‘‘ Dieser Artikel wendet sich nur an Wissenscha­ftler und ernsthafte Menschen, für die der Kuss kaum schicklich ist. Voltaire im „Philosophi­schen Wörterbuch“

‘‘ Der Kuss ist das stumme Hohelied der Liebe, und wo das Wort nicht ausreicht, ziemt es dem Sänger zu schweigen.

Viktor von Scheffel Schriftste­ller des 19. Jahrhunder­ts

des Kinos. Es passte perfekt zum Stummfilm, der nur nonverbale Kommunikat­ion bieten konnte. Im Tonfilm ersetzte es sexuelle Akte, die zu zeigen verboten war. Was die Besucher auf der Leinwand sahen, machten sie bereits im Kinosaal nach. So gewöhnte sich die westliche Welt ans Küssen in der Öffentlich­keit, und die Stars dienten als Vorbild. „Jeder Jonny küsst heute wie Clark Gable“, klagte der Medienphil­osoph Günther Anders.

Hört nach bei „Casablanca“

Was hat es also mit dem Küssen auf sich? Wo das Drehbuch nichts mehr hergibt, das Sprechen verstummt, zeigen Körper, was kommunikat­iv noch möglich ist. Aber was teilen sie mit? Nichts, was nach außen dringt, überhaupt nichts Diskursive­s, nur eine innere Empfindung. Der Kuss hat „keine andere Botschaft als sich selbst“. Oder wie Sam in „Casablanca“singt: „A kiss is just a kiss.“

Das klingt doch zeitlos. Also sollte Haarkötter nicht den Untergang des Küssens beschwören, nur weil so viele nun zu Hause streamen, „Social Distancing“internalis­iert haben und ihre Zweierbezi­ehungen auf Apps anbahnen. Aber vielleicht stimmt er seinen Abgesang ja nur deshalb an, weil auch der Abschied so gut zum Küssen passt. Um noch einmal Casablanca zu bemühen: „Küss mich! Küss mich, als wäre es das letzte Mal.“

 ?? [Charly Herscovici/VBK Wien] ?? Es bleibt ein Rätsel: René Magritte, „Die Liebenden“von 1928 (Ausschnitt).
[Charly Herscovici/VBK Wien] Es bleibt ein Rätsel: René Magritte, „Die Liebenden“von 1928 (Ausschnitt).

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