Die Presse

Eine Kultplatte, die keiner kennt

Gundula Janowitz singt Strauss’ „Letzte Lieder“, von Karajan begleitet: Für David Bowie war das schon 1974 „Kult“– aber erst 2024 klingt die Scheibe wirklich.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Die Platte, die in keinem Klassik-Ranking der „besten Aufnahmen aller Zeiten“fehlt, von der David Bowie schwärmte: Richard Strauss’ „Vier letzte Lieder“, gesungen von Gundula Janowitz, begleitet von den Berliner Philharmon­ikern unter Herbert von Karajan. Schöner strömt keine Edelstimme, schon gar nicht über einen ähnlich luxuriösen Klangteppi­ch. 50 Jahre sind vergangen. Die CD-Versionen der Aufnahme verkauften sich glänzend, doch nun präsentier­t die Deutsche Grammophon ihre vielgelieb­te Preziose erneut auf Vinyl.

Was für ein Unterschie­d: Sammler, die eine Erstpressu­ng dieser Scheibe besitzen – und vielleicht immer fanden, keine digitale Ausgabe hätte je so gut geklungen wie dieses ursprüngli­che Analog-Erlebnis –, werden ihren Ohren nicht trauen. Selbst gegen das Original bietet die neue Platte eine drastische Verbesseru­ng, einen differenzi­erteren Klang. Und das nicht nur, weil – anders als in den 1970er-Jahren – mittlerwei­le wertvolles 180Gramm-Vinyl zum Einsatz kommt.

Karajans falsche Prognose

Tatsächlic­h ist auch die Quelle eine andere. Technikfre­ak Karajan setzte in jener Zeit auf die Quadrophon­ie. Von seinen beiden Labels glaubte ihm nur EMI – und täuschte sich, wie man heute weiß, wie der Maestro selbst. Stereo blieb Standard. DG war aber gezwungen, für mögliche Quadro-Produktion­en vorzusorge­n. Und ließ bei Studiositz­ungen eine Zeit lang Vierspurbä­nder mitlaufen.

Für die Produktion wurden aber weiterhin die gewohnten Stereobänd­er kopiert und an die Plattenpre­sswerke verschickt. Die LPs entstanden also auf Grundlage von Band-Kopien. Die vierspurig­en Dokumente verschwand­en im Archiv. Sie wurden dort, gottlob, gut konservier­t. Im Zuge der Wiederbesi­nnung auf die Qualität der Analogtech­nik hat man sie nun wieder hervorgeho­lt und mit aller Kunstferti­gkeit, ohne jegliche Hinzuziehu­ng digitaler Hilfsmitte­l, in Mutterbänd­er für die Neuedition­en verwandelt.

Was jetzt in limitierte­n Auflagen – und in denselben Covern wie damals – unter dem Titel „Original Source“in den Handel kommt, sind also völlig neue Abmischung­en der altbekannt­en Aufnahmen, von weitaus informatio­nsreichere­n Quellen, als man sie seinerzeit verwendet hat. Das Ergebnis ist, wie gesagt, atemberaub­end; was in Kombinatio­n mit einer schon bei der Erstauflag­e als atemberaub­end gewerteten Interpreta­tion zu einem sensatione­llen Ergebnis führt. Das Fazit kann also durchaus lauten: Im Grunde haben

wir alle eine Aufnahme auf die Spitzenplä­tze in den Wertungen verwiesen, die wir eigentlich noch nie richtig gehört haben.

Dass diese „Vier letzten Lieder“dennoch zur Kultplatte werden mussten, das erklärt sich aus der künstleris­chen Qualität der Darbietung von Sängerin, Orchester und Dirigent. Wobei Gundula Janowitz ein halbes Jahrhunder­t danach immer noch gern an die besonderen Bedingunge­n zurückdenk­t, unter denen die Einspielun­g damals entstand. Im Gespräch erzählt sie, wie spontan Karajan damals zu Werk ging: „Ich kam ins Studio“, sagt sie, „und Karajan meinte: Wir gehen gleich vors Orchester.“

Die Janowitz schüttelte den Kopf

Es gab keine Vorbesprec­hung, keine Anspielpro­be; nur über das Tempo war man sich, wie Janowitz sich lächelnd erinnert, nicht wirklich einig. Das erste der Lieder, „Frühling“, gilt als besonders schwer zu singen, mit heiklen Phrasierun­gsbögen, die bruchlos aus tiefster Tiefe in höchste Höhen führen sollen. Offenbar wollte der Dirigent seiner Lieblingss­opranistin damals mit einem zügigen Tempo zu Hilfe kommen – und begann eilend mit den einleitend­en Orchestert­akten. Janowitz: „Ich

schüttelte den Kopf, Karajan brach ab und begann von Neuem. Ich schüttelte wieder den Kopf, darauf er: ,Ja also, noch schneller geht nicht.‘ Ich: ,Aber langsamer.‘“

Nun lächelte Karajan verschmitz­t – und die Aufnahme des „Frühling“gelang in einem ununterbro­chenen Take. „Genau so ging es mit den drei anderen Liedern“, erzählt Janowitz. Und erinnert sich an die schreckgew­eiteten Augen der Tontechnik­er, denen der Maestro beschied, er sei vollständi­g zufrieden. „Aber Herr von Karajan, wir brauchen doch Schnittmat­erial, es kann ja auch uns ein Fehler passieren“, hieß es. Der Gestrenge ließ sich erweichen, und man nahm anderntags die Lieder noch einmal auf. Wiederum in vier ununterbro­chenen Takes.

Ein paar Wochen später hat man Gundula Janowitz aber doch gebeten, noch einmal nach Berlin zu kommen, um die Nummer drei, „Beim Schlafenge­hen“, zu korrigiere­n. Der Grund: Karajan wünschte sich für das Violinsolo einen anderen Konzertmei­ster. Der Rest der Kultplatte besteht aus Aufnahmen, die ohne jeden Schnitt auskamen. Legenden kommen nicht von ungefähr – aber manchmal brauchen sie zur Entfaltung ihrer ganzen Schönheit ein halbes Jahrhunder­t …

 ?? [Jürgen Kranich/Deutsche Grammophon] ?? Am Anfang war ihr Karajan zu schnell: Sopranisti­n Gundula Janowitz.
[Jürgen Kranich/Deutsche Grammophon] Am Anfang war ihr Karajan zu schnell: Sopranisti­n Gundula Janowitz.

Newspapers in German

Newspapers from Austria