Als Dostojewskis Großinquisitor und von Einsamkeit zerfressene Frau fesselt Barbara Petritsch in einem (Fast-)Soloabend, der oft durch Mark und Bein geht. Ist Freiheit die größte Qual?
Dostojewskis Großinquisitor geistert durch gegenwärtige politische Diskurse. Zum Beispiel, wenn es darum geht zu erklären, warum Menschen – wie etwa in Russland – politisch Ordnung vor Freiheit stellen. Aber auch dort, wo nach Putins Einfall in die Ukraine Pazifismus und ein Denken wie das von Jürgen Habermas schnell entsorgt wurden: Realpolitik, ja Verteidigung der Humanität komme nicht ohne inhumane Mittel aus. Der Großinquisitor sieht den Menschen als Wesen, das die Freiheit nicht erträgt. Den wiedergekehrten Jesus sperrt er als Störer einer Ordnung ein, die auch mit inhumanen Mitteln zu verteidigen, aber im Grunde menschenfreundlich ist. Immer wieder im 20. Jahrhundert wurde er als, wenngleich diabolisch überzeichnete, Figur des hellsichtigen, um die Natur des Menschen wissenden Realpolitikers gedeutet. Daran erinnert auch 2022 der deutsche Kulturwissenschaftler Helmut Lethen in seinem Buch „Der Sommer des Großinquisitors“, in dem er das Nachleben von Dostojewskis berühmter Figur nachzeichnet.
Lethen kommt auch im Programmheft zur Produktion „Der Großinquisitor“im Akademietheater zu Wort: Man müsse das Destruktive auch „in den Tiefen des Humanismus entdecken. Sonst steht man vor der nächsten Überraschung.“In die Abgründe menschlicher Freiheit führt denn auch dieser Theaterabend, der eine hoch konzentrierte SoloGlanzleistung der Schauspielerin Barbara Petritsch ist. Nur ab und zu wird ihr Vortrag atmosphärisch von den so leisen wie eindringlichen Klängen des Musikers Richie Winkler unterstützt. Die Legende vom Großinquisitor wird in Dostojewskis Roman „Die
Brüder Karamasow“von einem der Brüder, dem nihilistisch gestimmten, mit dem Sozialismus sympathisierenden Iwan, seinem tiefreligiösen Bruder Aljoscha erzählt.
Ihr ist im Akademietheater ein Text vorangestellt, den man nicht auf den ersten Blick damit verbinden würde: die Monologszene „Falsch verbunden“aus Botho Strauß’ 1978 uraufgeführtem Stück „Groß und klein“. Dort geht es um die vergeblichen Versuche einer Frau namens Lotte, gesellschaftlichen Anschluss und menschliche Nähe zu finden. In einer Szene – jener, die Barbara Petritsch hier, in eine Decke gehüllt, zum Besten gibt – erlebt man sie allein sitzend. Das beginnt als Litanei des konkreten Verlassenseins („Frieder ist gegangen und Nichtfrieder ist gegangen. Egbert ist gegangen und Inge ist gegangen …“) und steigert sich in ein wie delirierendes, umfassenderes Verlorensein; Lotte klagt zu ihrem Sessel, dann zu Gott.
Durch Petritschs Spiel gewinnt die isolierte Szene einen ganz eigenen Charakter: Es ist die Einsamkeit am Lebensende, die hier die Bühne erfüllt.
Man muss zwischen den zwei Programmpunkten keine motivischen Verbindungen stiften, kann es aber. Etwa das Leben als grausame Überforderung durch die Freiheit, die auch Vereinzelung bedeutet. Es wird hier erst vorgeführt, dann reflektiert. In schwarzem Habit (bei Dostojewski ist es eine Mönchskutte) erzählt Petritsch vom Großinquisitor. Und sie spielt ihn, wie er Jesus seine Sicht der Dinge erklärt, mit dem Hauch eines Fanatikers, aber auch mit unheimlicher Überzeugungskraft. Und spricht er denn nicht wie ein menschenfreundlicher Pragmatiker, wenn er für die „Schwachen“als den allergrößten Teil der Menschheit eintritt? „Sind dir nur die Tausende von Großen und Starken teuer“, die die Zumutung der Freiheit ertragen könnten, und nicht „die übrigen Millionen, zahlreich wie Sand am Meer?“, wirft er Jesus vor.
Seine Ordnung hingegen gebe den Menschen, was sie wirklich brauchten: Wunder, Gehorsam und Autorität. Die einzig Leidenden seien die Hüter dieser Ordnung. Für das Wohl der „Schwachen“würden sie lügen, betrügen und den Fluch der Freiheit tragen. „Nur wir, die Hüter des Geheimnisses, werden unglücklich sein.“
Petritschs klarer Vortrag gibt der Wucht, mit der Dostojewskis Text seine verstörenden menschliche Grundfragen stellt, Zeit und Raum. Schade, dass er in Wien nur noch zwei Mal zu erleben ist (am 22. 2. und 20. 3.).