Das richtige Atmen vor dem Schuss
In meiner Vorstadtwelt waren Waffen kein Thema. Wäre ich anderswo aufgewachsen, wer weiß, ob sie nicht auch für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden wären. So wie für zig Millionen Amerikaner. Vorabdruck aus Bloodbath Nation.
Ich habe nie eine Schusswaffe besessen. Jedenfalls keine richtige, doch bin ich, kaum den Windeln entwachsen, zwei oder drei Jahre lang mit einem Revolver an der Hüfte herumstolziert. Ich war Texaner, auch wenn ich in den Vorstädten von Newark, New Jersey, lebte, denn Anfang der Fünfziger war der Wilde Westen überall, und Legionen kleiner amerikanischer Jungen waren stolze Besitzer eines Cowboyhuts und einer billigen Spielzeugwaffe samt zugehörigem Kunstlederholster. Gelegentlich wurde eine Rolle Zündblättchen vor den Hahn des Revolvers gespannt, Ersatz für das Geräusch echter Kugeln, wenn wir zielten und feuerten und wieder einmal einen Schurken aus der Welt beförderten. Meistens jedoch drückten wir einfach ab und schrien: Peng, peng, du bist tot!
Ursprung dieser Fantasien war das Fernsehen, eine Neuheit, die sich exakt zur Zeit meiner Geburt (1947) zu verbreiten begann, und da das Haushaltsgerätegeschäft meines Vaters auch diverse Fernsehmodelle führte, darf ich mich rühmen, weltweit einer der Ersten zu sein, die seit dem Tag ihrer Geburt mit einem Fernseher im Haus gelebt haben. Hopalong Cassidy und The Lone Ranger sind mir am besten in Erinnerung geblieben, doch im Nachmittagsprogramm meiner Vorschuljahre gab es eine wahre Flut von billigen Western aus den Dreißigern und frühen Vierzigern, oft mit dem gut aussehenden, athletischen Buster Crabbe und seinem kauzigen Kumpan Al St. John in den Hauptrollen. Alle diese Filme waren der reine Schund, aber das konnte ich mit drei, vier, fünf Jahren nicht erkennen, und eine Welt, sauber aufgeteilt in Männer mit weißen Hüten und Männer
mit schwarzen Hüten, war genau das Richtige für die beschränkten Fähigkeiten meines jungen, einfältigen Verstands.
Jeder in diesen Filmen trug eine Waffe, Helden und Schurken gleichermaßen, doch nur die Waffe des Helden war ein Werkzeug der Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, und da ich mich nicht als Schurken, sondern als Helden sah, war der Spielzeugrevolver an meiner Hüfte ein Zeichen meiner eigenen Güte und Tugend, handfester Beweis meiner idealistischen Pseudomännlichkeit. Ohne ihn wäre ich kein Held gewesen, nur ein Niemand, nur ein Kind.
Damals war mein größter Wunsch ein Pferd, aber nicht ein einziges Mal kam mir in den Sinn, eine echte Waffe besitzen oder auch nur abfeuern zu wollen. Als sich mir schließlich die Chance dazu bot, war ich neun oder zehn und hatte meine infantile Traumwelt der Fernsehcowboys längst hinter mir gelassen. Jetzt war ich Sportler mit besonderer Leidenschaft für Baseball, aber auch Leser von Büchern und hin und wieder Verfasser furchtbar schlechter Gedichte, ein kleiner Junge auf dem verschlungenen Weg, ein größerer Junge zu werden. In jenem Sommer schickten meine Eltern mich in ein Ferienlager in New Hampshire, wo es neben Baseball auch Schwimmen, Kanufahren, Tennis, Bogenschießen und Reiten gab und zweimal wöchentlich am Schießstand geübt wurde, wo ich zum ersten Mal erlebte, wie viel Spaß es macht, den Umgang mit einem Kleinkalibergewehr zu lernen und Kugeln in eine fünfundzwanzig oder fünfzig Meter entfernte Zielscheibe zu jagen (die genaue Distanz habe ich vergessen, aber damals kam sie mir gerade richtig vor – weder zu nah noch zu weit). Unser Betreuer kannte sich bestens mit der Materie aus, und ich erinnere mich lebhaft daran, wie er mir beibrachte, das Gewehr richtig zu halten, wie man das Ziel über den Lauf hinweg anvisiert, wie man vor dem Schuss zu atmen hat und dass man, um die Kugel aus dem Lauf zu befördern, den Abzug mit einer langsamen, gleichmäßigen Bewegung zurückziehen sollte. Damals hatte ich gute Augen und machte rasch Fortschritte, erst in Bauchlage, wo ich einmal mit fünf Schüssen siebenundvierzig von fünfzig Punkten holte, dann im Sitzen, was ein ganzes Arsenal neuer Techniken erforderte, doch gerade als ich zum Knien übergehen sollte, war der Sommer zu Ende und mit ihm meine Karriere als Schütze. Meine Eltern fanden, das Ferienlager sei zu weit weg, und schickten mich im nächsten Sommer in ein anderes, nur halb so weit entferntes, und dort stand Schießen nicht auf dem Programm. Eine kleine Enttäuschung, mag sein, in jeder anderen Hinsicht aber war das zweite Lager besser als das erste, und so dachte ich nicht weiter darüber nach. Und doch, mehr als sechzig Jahre später ist mir immer noch deutlich im Gedächtnis, wie gut es sich anfühlte, einen Schuss mitten ins Schwarze zu setzen – diese Zufriedenheit, ähnlich der, die mich jedes Mal erfüllte, wenn ich als Shortstop einen vom Leftfielder geworfenen Ball erwischt und mit einer schnellen Drehung dem Catcher zugeworfen hatte, während ein Runner schon um die dritte Base gekurvt und auf dem Weg zur Homeplate war. Dieses Gefühl, mit etwas oder jemand weit Entferntem verbunden zu sein; einen Ball werfen oder eine Kugel abfeuern und ins Schwarze treffen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen – einen Run des Gegners abzufangen, am Schießstand eine hohe Punktzahl zu erzielen –, so ein Erfolgserlebnis machte mich geradezu euphorisch. Entscheidend war das Gefühl der Verbundenheit, und ob es dazu eines Balls oder einer Gewehrkugel bedurfte, spielte keine Rolle.
Die nächste Chance zur Benutzung eines Gewehrs bekam ich mit vierzehn oder fünfzehn. Unterdessen ging meine Sportbegeisterung über Baseball hinaus und umfasste auch Football und Basketball, und gleichgültig, ob ich Tackle oder Touch spielte, auf großem oder kleinem Feld, die Verbundenheit mit etwas oder jemand weit Entferntem war noch immer das Berauschendste an der Sache – einen Sprungwurf aus fünf oder sieben Metern zu versenken oder in meiner Rolle als
Quarterback einen 40-Meter-Pass genau über die Reihen der gegnerischen Verteidigung hinweg in die Arme meines nach vorn stürmenden Receivers zu werfen, sodass ihm ein Touchdown gelang. Einer meiner engsten Freunde jener Zeit kam aus einer wohlhabenden Familie, und nicht lange nachdem sein Vater eine Hobbyfarm im Sussex County erworben hatte, wurde ich für einen Samstag oder Sonntag Mitte November dorthin eingeladen. An das meiste kann ich mich nicht erinnern, unvergesslich allerdings sind die ein oder zwei Stunden, die wir in dieser frostigen ländlichen Umgebung unter kahlen Ästen und lärmend herumflatternden Krähen mit Tontaubenschießen verbrachten. Diesmal war es kein Kleinkalibergewehr, sondern eine doppelläufige Schrotflinte mit kräftigem Rückstoß, ein Schießprügel, der schon mehr hermachte, und ich schoss nicht mehr auf eine Pappscheibe, die an einer Mauer befestigt war, sondern auf ein Ding, das sich frei durch die Luft bewegte – eine runde schwarze Scheibe, Tontaube genannt, die von einer Vorrichtung am Boden schräg nach oben geschleudert wurde, und beim Zielen auf dieses über den grauweißen Himmel sausende schwarze Ding war mir sofort klar, ich musste schnell handeln, sonst schlug es am Boden auf, bevor ich abgedrückt hatte. Seltsamerweise kam mir das nicht schwierig vor, und schon beim ersten Versuch gelang es mir, Geschwindigkeit und Flugbahn der Scheibe zu berechnen und richtig einzuschätzen, wie weit vor die Scheibe ich zu zielen hatte, damit das Projektil auf seinem Weg durch die Luft am Ende mit dem auf es zufliegenden Ding kollidierte. Mein erster Schuss war ein Volltreffer. Die Tontaube zersprang mitten im Flug und ging in winzigen Splittern zu Boden, und als Sekunden später die zweite hochgeschleudert wurde, traf ich auch sie. Anfängerglück, mag sein, doch ich fühlte mich eigenartig souverän; dann kamen mein Freund und sein Vater an die Reihe, und während ich wartete, sagte ich mir, es müsse irgendwie mit all den Bällen zu tun haben, die ich in den letzten zwei oder drei Jahren geworfen hatte. Und sosehr mir das Schießen auf Zielscheiben in New Hampshire gefallen hatte, spürte ich sofort, dass diese Art zu schießen wesentlich mehr Befriedigung verschaffte. Vor al
Damals war mein größter Wunsch ein Pferd, kein einziges Mal kam mir in den Sinn, eine echte Waffe besitzen zu wollen.
lem, weil es schwieriger war, aber auch, weil es mehr Spaß machte, eine Tontaube zu zertrümmern, als in ein Stück Pappe ein Loch zu stanzen. Den ganzen Nachmittag habe ich kein einziges Mal danebengeschossen.
Wenn ich bedenke, wie viel Gefallen ich an diesem neuen Sport gefunden habe, ist mir rätselhaft, warum ich damit nicht weitergemacht habe. In New Jersey hätte ich bestimmt einen Schützenverein finden und ein- oder zweimal die Woche nach Herzenslust schießen können, aber sosehr ich diesen Tag auf der Farm genossen hatte, ließ ich die Sache dann einfach fallen. Noch rätselhafter, in all den Jahren seither habe ich niemals mehr eine Schusswaffe in der Hand gehabt.
Mangels anderer Erklärungen vermute ich, mein Desinteresse an Schusswaffen rührt daher, dass nichts in meiner damaligen Umgebung mich an sie herangeführt hat. Weder mein Vater noch meine Mutter oder sonst jemand im weiteren Familienkreis besaß eine Schusswaffe, keiner von ihnen betätigte sich als Jäger, war im Schützenverein oder sprach jemals davon, sich eine Kurzwaffe oder ein Gewehr anschaffen zu wollen, um seine Familie vor Einbrechern zu schützen. Dasselbe galt für alle meine Freunde und deren Familien, und obwohl die Zeitungen in den 1950ern voll waren von Berichten über Morde in der Unterwelt, kann ich mich nicht erinnern, dass Waffen in meiner Heimatstadt jemals Gesprächsstoff waren. Auf dem Land nahmen Väter schon ihre kleinen Söhne mit auf die Jagd, und in den Großstädten befehdeten sich Halbwüchsige in den Armenvierteln mit selbst gebastelten Pistolen und wurden als „jugendliche Straftäter“abgestempelt, doch in meiner weitgehend friedlichen, aber auch nicht von Verbrechen verschonten Vorstadtwelt waren Schusswaffen kein Thema, nicht einmal in den Jahren, als wöchentlich zwanzig oder dreißig Western im Fernsehen liefen und Hollywood am Fließband Wildwestfilme produzierte.
Wäre ich anderswo aufgewachsen, wer weiß, ob Schusswaffen nicht auch für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden wären. So wie für zig Millionen Amerikaner im ganzen Land. Und hätte ich andere Eltern in einer anderen Umgebung gehabt und hätte mein Vater mich ermuntert, mich auf das Schießen als einen wesentlichen Teil des Mannseins zu verlegen, dann hätte ein Junge mit meiner angeborenen Treffsicherheit sich das bestimmt nicht zweimal sagen lassen. Aber mein Vater war nicht so, und ich war nicht so ein Junge. Mehr noch, es gab da etwas, das ich nicht wusste, etwas Wesentliches, das mir die ganze Kindheit hindurch und bis in meine frühen Zwanziger verborgen blieb, und erst nachdem es ans Licht gekommen war, begriff ich endlich, wie sehr mein Vater Schusswaffen verabscheut haben musste und welch schlimme Narben die Grausamkeit von Schusswaffen, wenn echte Kugeln in echte Menschenleiber gefeuert werden, bei ihm hinterlassen hatte.
Solange ich denken kann, wusste ich, dass mein Großvater väterlicherseits gestorben war, als mein Vater noch in den Kinderschuhen steckte. Ich hatte zwei Großmütter, aber nur einen Großvater, und der Schatten dieses Verschollenen glitt oft über meine Gedanken und ließ mich spekulieren, wer dieser Mann gewesen sein könnte und wie er ausgesehen haben mochte, denn Fotos von ihm gab es bei uns zu Hause nicht. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich als Kind meinen Vater dreimal gefragt, woran sein Vater gestorben sei. Jedes Mal zögerte er mit der Antwort, und jedes Mal, wenn er mir die Geschichte dann erzählte, war sie anders als die vorige. Beim ersten Mal sagte er, sein Vater sei vom Dach eines hohen Gebäudes, an dem es etwas auszubessern gab, gestürzt und dabei zu Tode gekommen. Beim zweiten Mal, er sei bei einem Jagdunfall getötet worden. Beim dritten Mal, er sei als Soldat im Ersten Weltkrieg gefallen. Ich war höchstens sechs oder sieben Jahre alt, aber alt genug zu wissen, dass ein Mensch nur einmal stirbt, nicht dreimal, doch aus mir kaum nachvollziehbaren Gründen habe ich meinen Vater nie auf diese Widersprüche hingewiesen und um Aufklärung gebeten. Vielleicht hatte ich, weil er so unnahbar und wortkarg war, schon damals gelernt, den Abstand zwischen uns zu respektieren und gehorsam hinter der Mauer zu bleiben, die er um sich gezogen hatte. Diese Mauer zu durchbrechen und ihn praktisch der Lüge zu bezichtigen lag daher nicht im Bereich des Möglichen. Ich erinnere mich undeutlich, dass ich meine Mutter wegen der drei verschiedenen Geschichten meines Vaters befragt habe und dass ich mit ihrer Antwort ebenso wenig anfangen konnte. „Er war damals noch so jung“, sagte sie, „wahrscheinlich weiß er selbst nicht, wie es passiert ist.“Aber auch das ergab keinen Sinn. Mein Vater war das jüngste von fünf Kindern, und irgendeins seiner älteren Geschwister muss es ihm doch erzählt haben, auch wenn seine Mutter nicht darüber reden wollte. Als Drittjüngster von neun Cousins und Cousinen fragte ich schließlich vier oder fünf der Älteren, ob ihnen jemals etwas über den Tod unseres Großvaters erzählt worden sei, und sie alle sagten, auch sie hätten auf ihre Fragen immer nur ähnlich ausweichende Antworten erhalten wie ich. Offenbar hatten die vier Auster-Brüder und ihre Schwester beschlossen, die Wahrheit vor ihren Kindern zu verbergen, und für uns aus der jüngeren Generation gab es keine Hoffnung, je hinter das Geheimnis um unseren Großvater zu kommen, den der Tod ereilt hatte, lange bevor wir auf die Welt gekommen waren.
Jahre vergingen, ohne dass sich in der Frage etwas Neues ergab, und dann, durch einen völlig unwahrscheinlichen Zufall, der jede vernünftige Annahme darüber, wie es auf der Welt zugehen sollte, auf den Kopf stellte, saß eine meiner älteren Cousinen 1970 auf einem Transatlantikflug neben einem Fremden, der in Kenosha, Wisconsin, aufgewachsen war und nach wie vor dort lebte, ebender Kleinstadt, in der unsere Väter und deren Eltern in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs gelebt hatten, und dieser Mann lüftete den Schleier, der das Geheimnis fünf Jahrzehnte lang verhüllt hatte. Weil mein Vater der war, der er war, und weil ich der war, der ich inzwischen geworden war, habe ich ihm in den neun Jahren, die ihm noch blieben, kein Wort davon erzählt. Ich wusste, was er wusste, aber er hat nie erfahren, dass ich es wusste. Aus welchen Motiven auch immer, er hatte mich mit seinem Schweigen beschützt, als ich jung war, und ich tat für ihn das Gleiche, als er alt war.
Die Tatsachen in aller Kürze: Am 23. Januar 1919, zwei Monate nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, am Beginn der dritten Welle der Spanischen Grippe, der Pandemie, die im Jahr zuvor ausgebrochen war, und nur eine Woche nach Ratifizierung des 18. Verfassungszusatzes, mit dem Produktion, Transport und Verkauf alkoholischer Getränke in den Vereinigten Staaten verboten wurden, erschoss meine Großmutter meinen Großvater. Die Ehe war bereits ein, zwei Jahre zuvor zerbrochen. Nach der Trennung war mein Großvater ausgezogen und nach Chicago gegangen, wo er mit einer anderen Frau zusammenlebte; an jenem Donnerstagabend im Jahr 1919 kam er nach Kenosha, um seinen Kindern Geschenke zu bringen, und während seines offenbar als Kurzbesuch geplanten Aufenthalts dort bat ihn meine Großmutter, einen defekten Lichtschalter in der Küche zu reparieren. Der Strom wurde abgestellt, und während der zweitjüngste Auster-Sohn ihm im Dunkeln mit einer Kerze leuchtete, ging meine Großmutter nach oben, brachte ihren Jüngsten (meinen Vater) zu Bett, zog die unter dem Bett des Kleinen versteckte Pistole hervor, ging wieder nach unten, betrat die Küche und gab mehrere Schüsse auf ihren Noch-Ehemann ab, von denen zwei ihn trafen, einer in die Hüfte und der andere, tödliche, in den Hals. Die Zeitungen in Kenosha gaben sein Alter mit sechsunddreißig an, vermutlich war er aber schon ein paar Jahre älter. Mein Vater war sechseinhalb, und mein Onkel, der Junge, der die Kerze gehalten und den Mord als Augenzeuge miterlebt hatte, war neun.
Natürlich gab es einen Prozess, und nachdem meine Großmutter überraschend wegen temporärer Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen worden war, zog sie mit ihren fünf Kindern aus Wisconsin fort und landete schließlich in Newark, New Jersey, wo mein Vater in einer kaputten Familie unter der Fuchtel einer hitzköpfigen, nervlich zerrütteten Matriarchin aufwuchs, die ihre Kinder dazu abrichtete, weder untereinander noch anderen gegenüber jemals ein Wort verlauten zu lassen über das, was in Kenosha geschehen war. Immer knapp bei Kasse, war das Leben ein einziger Kampf, und obwohl die vier Jungen alle neben der Schule arbeiten gingen, fehlte nicht selten das Geld für die Miete, mit der Folge, dass sie auf der Flucht vor wütenden Hausbesitzern mehrmals im Jahr umziehen mussten, was wiederum zur Folge hatte, dass die Jungen bei dem Hin und Her von einem Wohnviertel ins andere ständig die Schule wechselten. So viele Freundschaften gingen zu Bruch, so viele mögliche Bande zerrissen, bis sie am Ende nur noch aufeinander zählen konnten. Dies war nicht die respektable Armut einer Familie, die gesellschaftlich ein wenig abgerutscht war, sondern die brutale Armut einer Familie, die praktisch in der Gosse gelandet war – mit all dem Stress, den Sorgen und Ängsten, die einen plagen, wenn es an allen Ecken und Enden fehlt.
Auslöser für das alles war die Pistole, und nicht nur hatten die Kinder keinen Vater, sie lebten auch noch mit dem Wissen, dass ihre Mutter ihn getötet hatte. Und dennoch liebten sie sie – unbeirrbar, heftig, und sosehr die Frau bisweilen ausrasten oder sie mit ihrer Launenhaftigkeit quälen mochte, sie hielten eisern zu ihr und ließen in ihrer Zuneigung niemals nach.
Wenn wir in diesem Land über Schießereien reden, denken wir immer an die Toten, selten jedoch an die Verletzten, die Menschen, die nicht tödlich getroffen wurden und oft lebenslang unter verheerenden Folgeschäden zu leiden haben: ein zertrümmerter Ellbogen, der den Arm unbrauchbar macht; eine zerschossene Kniescheibe, die aus normalem Gehen ein qualvolles Humpeln werden lässt; das zerfetzte Gesicht mit künstlichem Kiefer, von plastischer Chirurgie zusammengeflickt. Und dann die Opfer, die äußerlich von Kugeln verschont blieben, aber lange Zeit an inneren Wunden leiden, an der Trauer um eine verstümmelte Schwester, einen hirnverletzten Bruder, einen toten Vater. Und wenn dein Vater tot ist, weil deine Mutter ihn erschossen hat, und wenn du deine Mutter trotzdem weiter liebst, kannst du damit rechnen, dass du unter dem Leben mit so vielen in deinem Kopf verdrahteten Widersprüchen irgendwann in die Knie gehst und ein Teil von dir einfach dichtmacht.
Die drei älteren Kinder, zur Zeit des Mordes fast schon erwachsen, konnten sich leichter auf die neue Realität einstellen als die zwei jüngeren, mein sechseinhalb Jahre alter Vater und mein neun Jahre alter Onkel. Der Junge, vor dessen Augen der Mord geschehen war, wuchs zu einem erfolgreichen, aber ruhelosen Mann heran, der zu wilden Ausbrüchen neigte, entsetzlich laut brüllte und tobte, Anfälle unbeherrschter Wut bekam, die sich in seinen explosivsten Momenten zu Orkanstärke steigern und Mauern, Häuser und ganze Städte zum Einsturz bringen konnten. Und mein zumeist verschlossener Vater konzentrierte sich darauf, seine Radioreparaturwerkstatt zu einem großen Haushaltsgerätegeschäft auszubauen, und wohnte bis zu seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr bei seiner Mutter – ein antriebsloser, frei dahintreibender Junggeselle, bis er 1946 meine damals einundzwanzigjährige Mutter heiratete, eine Frau, die er vorgeblich anbetete, aber nicht lieben konnte, war er doch längst so vereinsamt und gebrochen, ein Mann mit einem so düsteren Innenleben, dass er sich selbst und andere aus dem Blick verloren hatte, was ihn untauglich zur Ehe machte und schließlich zur Scheidung führte, und wann immer ich an die im Grunde guten Eigenschaften meines Vaters denke, und was aus ihm hätte werden können, wäre er unter anderen Umständen aufgewachsen, denke ich auch an die Pistole, der mein Großvater zum Opfer fiel – die Waffe, die das Leben meines Vaters ruiniert hat.
In New Jersey hätte ich bestimmt einen Schützenverein finden und nach Herzenslust schießen können. Ein zertrümmerter Ellbogen, eine zerschossene Kniescheibe, die aus normalem Gehen qualvolles Humpeln macht.