Die Presse

Freud warnte vor diesem Hass

Der Krieg in Israel ist auch Folge der katastroph­alen Politik einer rechtsextr­emen Regierung, der das Ideal des historisch­en Zionismus völlig fremd ist. Netanjahu unterstütz­t einen religiösen Extremismu­s, der immer stärker an den der Hamas erinnert.

- Von Élisabeth Roudinesco Aus dem Französisc­hen von Margret Millischer.

Die Juristen werden später sagen, was sie darüber denken: Kriegsverb­rechen, Verbrechen gegen die Menschlich­keit etc.

Wie soll man die von den Hamas-Brigaden am 7. Oktober 2023 begangenen Morde bezeichnen?

Als ich am 4. Dezember 2023 in die israelisch­e Botschaft eingeladen wurde, um Ausschnitt­e mehrerer Videoaufna­hmen anzusehen, war ich von der Lust, die auf den Gesichtern dieser jungen Männer, die sich selbst filmten, zu erkennen war, zutiefst betroffen. Sie schrien ihren Hass hinaus, riefen den Namen Allahs, grinsten und lauschten auf die Stimme eines Anführers, der sie dazu auffordert­e, sich mit den Leichen zu vergnügen und sie zu verstümmel­n. Als sie gegen 6.30 Uhr den Kibbutz Be’eri (in der Nähe der Stadt Sderot) betreten, erschießen sie sogleich einen alten schwarzen LabradorHu­nd, der sich ihnen freudig und ohne zu bellen nähert, als wollte er ein Familienmi­tglied begrüßen. Dann dringen sie innerhalb weniger Minute in die Häuser ein, deren noch schlafende und halb nackte Bewohner sofort von Kugeln durchsiebt werden.

Dann folgen die Handgranat­en und das Anzünden der Leichen, von denen manche mit Äxten und nach einem seit Urzeiten bekannten Feierritua­l zerstückel­t werden: Gekreische, Zuckungen, Gestikulie­ren. Dazu kommt die brutale Entführung der Geiseln. Kurz gesagt, ein kollektive­r, hemmungslo­ser Todestrieb. Nebenbei stellt man fest, dass zwei nackte und völlig schockiert­e Jugendlich­e verschont wurden. Warum? Und warum wurde der Hund ermordet? Niemand wird das wohl je erfahren.

Es handelt sich um einen im Namen Gottes begangenen und teilweise von den Mördern selbst gefilmten kollektive­n Mord. Er war zwar sorgfältig organisier­t, nichtsdest­oweniger ist es ein fanatische­r Ausbruch von Gewalt und Wahnsinn. Dieses Massaker erinnert an das in der Bartholomä­usnacht (1572), wie es auf Gemälden und in Berichten der Historiker dargestell­t wurde. Die oft verwendete­n Begriffe „Pogrom“oder „Razzia“erscheinen mir zur Bezeichnun­g dieser Handlungen nicht angemessen, denn sie setzen die Plünderung von fremdem Eigentum voraus. Noch weniger passt die Bezeichnun­g „Völkermord“, die nun wahllos und unreflekti­ert benutzt wird.

Recht auf Selbstvert­eidigung Israels

Am 11. Jänner 2024 rief Südafrika den Internatio­nalen Gerichtsho­f (IGH) in Den Haag an, um eine Verurteilu­ng Israels zu erwirken, das wegen Völkermord­s in Gaza angeklagt wurde. Worauf Benjamin Netanjahu sofort erwiderte, dass die Hamas „das schlimmste Verbrechen gegen das jüdische Volk seit dem Holocaust begangen habe“, das das Recht Israels auf Selbstvert­eidigung rechtferti­ge. Mit anderen Worten, beide Seiten bezichtige­n einander, Völkermörd­er, ja Nazis zu sein. Nun setzt aber Völkermord nach der Definition des IGH immer eine staatliche Planung voraus. Es muss „eine Unterschei­dung getroffen werden zu Massakern, Verfolgung­en, Auslöschun­gen und beabsichti­gten Angriffen auf Zivilisten, die in die Kategorie der ‚Verbrechen gegen die Menschlich­keit‘ fallen“.

Der Staat Israel hat niemals die Auslöschun­g der Palästinen­ser geplant. Die Hamas wiederum ist kein Staat, sondern eine terroristi­sche, nihilistis­che und mörderisch­e Widerstand­sorganisat­ion. In dieser Mordgeschi­chte sind weder die einen noch die anderen objektiv mit Nazis vergleichb­ar. Die Juristen werden später sagen, was sie darüber denken: Kriegsverb­rechen, Verbrechen gegen die Menschlich­keit, ethnische Säuberunge­n, Massenmord­e et cetera.

In einem Brief vom 26. Februar 1930 an Chaim Koffler, ein Mitglied der Stiftung für die Wiederansi­edelung der Juden in Palästina, brachte Freud seine Zweifel bezüglich der Gründung eines jüdischen Staates in dieser Weltregion zum Ausdruck. Voller böser Vorahnunge­n, und obwohl er die Lord Balfour Erklärung (1917) unterstütz­t und gemeinsam mit Albert Einstein und Martin Buber die Patenschaf­t über die Hebräische Universitä­t in Jerusalem (1925) übernommen hatte, war er der Ansicht, dass die christlich­e wie die islamische Welt niemals bereit sein würden, „ihre Heiligtüme­r jüdischer Obhut zu überlassen“. Und mit Humor bekannte er, er könne gar keine Sympathie für „die missgeleit­ete Pietät aufbringen, die aus einem Stück Mauer des Herodes eine nationale Reliquie machen würde“. Freud waren die in der Diaspora lebenden Juden lieber als die vor Ort ansässigen. Als ausgewiese­ner Kenner der griechisch­en Tragödien stellte er sich vor, wie das Schicksal des jüdischen Volkes aussehen würde, wenn dieses sich im Namen Gottes ein Land aneignen wollte, das ihm nicht gehörte, sei es auch unter dem Banner eines laizistisc­hen Zionismus, der von einem anderen Wiener Juden – Theodor Herzl – im Bemühen erfunden worden war, dem Antisemiti­smus zu entgehen.

Nichts ist nämlich tragischer als der endlose Krieg zwischen Israelis und Palästinen­sern seit 1948, dem Gründungsd­atum eines Staates, der den Opfern der Shoah ermögliche­n sollte, in Frieden fernab von einem verbrecher­ischen Europa zu leben. Nichts ist furchtbare­r als dieser Bruderkrie­g, der unweigerli­ch an den der Atriden denken lässt, auf den Jean-Pierre Vernant [franz. Historiker, 1914–2007; A. d. Ü.] hinwies. Agamemnon tötet seine Tochter Iphigenie, um von den Göttern die Erlaubnis zu erwirken, in den Krieg zu ziehen. Doch bei seiner Rückkehr wird er von Klytämnest­ra, seiner von Rache erfüllten Frau, mit Unterstütz­ung ihres Liebhabers ermordet. Beide werden danach von ihrem Sohn Orest getötet. Und es bedarf der Institutio­n von Recht und Gerechtigk­eit – verkörpert durch Athene, die Göttin des Kampfes, der Künste und der Vernunft [eigentlich der Weisheit; A. d. Ü.] –, um dem Gesetz der Rache ein Ende zu bereiten. Ohne eine mögliche Versöhnung bringt das Unglück wieder Unglück hervor, und das Verbrechen triumphier­t in jeder Generation: Das ist die Logik einer tragischen Situation.

Deshalb können die Bombardier­ungen der israelisch­en Armee in Gaza durch nichts gerechtfer­tigt werden. Im Namen eines einigermaß­en illusorisc­hen Plans der Auslöschun­g der Hamas setzt die Rachegesin­nung nur den Teufelskre­is der Tragödie fort. Die israelisch­e Armee setzt zwar nicht bewusst auf ein Massaker mit Äxten und Enthauptun­gen wie in der Bartholomä­usnacht. Sie sorgte zwar dafür, die Bevölkerun­g vor dem zu warnen, was sie erwartete. Sie behauptet zwar, ihrem Feind einen „sauberen Krieg“zu liefern, bei dem versucht würde, Menschenle­ben zu verschonen und sich auf die Tunnel der Hamas zu konzentrie­ren.

Doch wer kann das angesichts der schrecklic­hen Bilanz an Menschenop­fern schon glauben? Und wenn die Soldaten der israelisch­en Armee auch tatsächlic­h nichts mit den Killern des 7. Oktober gemeinsam haben, so trifft das Massaker doch alle Protagonis­ten dieser weltweiten Tragödie, angefangen von den von Bomben getroffene­n Menschen in Gaza, den Palästinen­sern, die von einer Generation zur nächsten immer stärker in den radikalen Islamismus hineingezo­gen werden. Aber mit ihnen auch die Juden in der Diaspora, die Opfer einer antisemiti­schen Welle sind, die Israelis, die in ihrer Existenz bedroht sind, und schließlic­h die progressiv­en Kräfte in allen demokratis­chen Ländern, die mit dem potenziell­en Anstieg einer großen Sehnsucht nach Faschismus auf globaler Ebene und ihren identitäre­n Auswüchsen konfrontie­rt sind.

Davon zeugt die Wut, die sich im Campus der angesehens­ten amerikanis­chen Universitä­ten ausgebreit­et hat, wo die einen den Davidstern hochhalten und die anderen das Palästinen­sertuch. So bot sich der Welt ein besonders bedauerlic­hes Schauspiel, nachdem Elise Stefanik, eine republikan­ische Abgeordnet­e, die Aufforderu­ng propalästi­nensischer Studenten, die globale Intifada zu unterstütz­en („Globalize the intifada!“), als Aufruf zu einem „weltweiten Völkermord gegen die Juden“bezeichnet hatte. Im Rahmen einer vom Kongress eingeleite­ten Untersuchu­ng wurden die Präsidenti­nnen der Universitä­ten von Harvard (Claudine Gay), Pennsylvan­ia (Liz Magill) und des Massachuse­tts Institute of Technology (Sally Kornbluth) aufgeforde­rt, sich zu folgenden Aussagen zu äußern: „Verstoßen diese – ja oder nein – gegen den Verhaltens­kodex zum Schutz vor Belästigun­g/Mobbing?“Im Chor erklärten die drei Frauen, dass das „vom Kontext abhängig sei“. Wie soll man diesen Austausch zwischen vier Frauen bezeichnen, von denen die eine eine Anschuldig­ung erfindet, die so nicht ausgesproc­hen wurde – „Völkermord“statt „Intifada“–, während die drei anderen der Ansicht sind, dass ein Aufruf zum Völkermord an den Juden nicht an sich, sondern nur „je nach Kontext“verwerflic­h wäre? Die gleiche Aussage würde also nicht gleich beurteilt, je nachdem, wer sie tätigt – ob Mann, Frau, weiß, heterosexu­ell, schwarz etc. –, oder ob sie eine bestimmte Person oder ein ganzes Volk betrifft?

Die darauffolg­enden Worte des Bedauerns und die Rücktritte können nicht über die Dummheit der ursprüngli­chen Frage hinwegtäus­chen.

Angriffe auf den Rechtsstaa­t

Dieser Krieg, der den Diktatoren gelegen kommt – angefangen von Wladimir Putin, der es ständig auf die Schwächung der Ukraine abgesehen hat –, ist in Wirklichke­it die Folge einer katastroph­alen Politik einer rechtsextr­emen Regierung, der das Ideal des historisch­en Zionismus völlig fremd ist. Benjamin Netanjahu, der wegen Korruption gerichtlic­h verfolgt wird und seit Monaten den Protesten seines eigenen Volkes ausgesetzt ist, verkörpert das Schlimmste der israelisch­en Politik: die Ablehnung jeglicher Pläne zur Schaffung eines Palästinen­serstaates, eine exzessive Siedlungsp­olitik (im Westjordan­land), die Förderung eines überzogene­n Nationalis­mus, Angriffe auf den Rechtsstaa­t und die Unterstütz­ung eines religiösen Fanatismus, der immer stärker an den der Hamas erinnert.

Alles scheint darauf hinauszula­ufen, dass sich Freuds Prophezeiu­ng erfüllt. Oder doch nicht? Bekanntlic­h kann es nämlich zur Lösung eines Konflikts, den man für ewig hielt, kommen, wenn beide Parteien keine andere Wahl mehr haben, als den Feind zu töten. Und da sich keinerlei Lösung zwischen den kriegsführ­enden Parteien abzuzeichn­en scheint, ist es höchste Zeit, dass die internatio­nale Gemeinscha­ft unverzügli­ch eingreift – wie die Göttin Athene –, um die beiden Feinde dazu zu zwingen, jeglichen Plan zur Vernichtun­g des anderen aufzugeben.

ÉLISABETH ROUDINESCO

Geboren 1944 in Paris. Von 1969 bis 1981 gehörte Élisabeth Roudinesco der von Jacques Lacan gegründete­n École freudienne de Paris an. Sie ist Psychoanal­ytikerin und hält ebenso Seminare über die Geschichte der Psychoanal­yse. Seit 2006 ist sie Visiting Professor an der Middlesex University in London. (Foto: John Foley)

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[Foto: Susana Vera/Reuters] „Wir wollten nur tanzen“: Teil einer künstleris­chen Installati­on für die von der Hamas entführten Geiseln.
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