Maskenball ist jeden Tag
Heute leidet die Menschheit unter der Krankheit Fear of Missing out, auch FOMO genannt, der Angst, etwas zu verpassen. So auch ich, die ich mich eigentlich gerade extrem unwohl auf dieser Party fühle, aber mich dennoch nicht losreißen kann. Eine Faschingsgeschichte.
Es ist Karneval, und ich lebe in Köln. Das heißt, ich habe keine Chance, mich dem Treiben zu entziehen: bunte Girlanden, geschminkte Lippen, Perücken, jede Menge Alkohol und Sex. „Das Leben wartet!“, sagt meine beste Freundin, Conny, zu mir und nimmt mich an der Hand. Tut es das? Auf jeden Fall weht draußen ein frischer Wind, und so schreite ich wippend neben Conny her. Conny ist als Engel verkleidet, mit hochhackigen Schuhen und ausgestopfter Oberweite. Meine Verkleidung ist weniger aufwendig, aber leider sehr unpraktisch: Ich trage Elfenohren. Das bedeutet, ich muss all meine Bewegungen mit äußerster Sorgfalt vollführen, sonst verliere ich die Plastikutensilien.
„Heute gehört die Nacht uns, Süße“, sagt Conny vergnügt und spitzt die Lippen. Wir gehen im Gleichschritt die Straße entlang und klingeln bei Martina. „Lasst uns tanzen!“, schlägt Martina vor, während wir in ihren Wagen steigen. „Dietrich gibt grad eine Party!“Ich merke, wie sich ein wohliges Gefühl in meinem Bauchraum ausbreitet. „Ja!“, rufe ich begeistert.
Man kann in einem permanenten Zustand von „Fasching“leben, indem man sich einfach die „Verkleidung“kreiert, die man haben will – sei es digital, sei es real. Ich summe, während sich das Auto in Bewegung setzt. Mensch oder Maschine? Wer gewinnt den Machtkampf?, sinniere ich. Künstliche Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab – und Menschen müssen mit dieser Entwicklung mithalten und ihren Körper, so gut es geht, optimieren, oder? Das habe ich dank meines Fitnessarmbands, das Kalorienverbrauch, Pulsfrequenz und Trainingseinheiten akribisch genau dokumentiert, inzwischen voll drauf.
„Na, Süße, was überlegst du denn?“, meint Conny und legt ihre Hand auf meine Knie. Ich habe zu Hause schon ein wenig Alkohol getrunken, also plappere ich fröhlich drauflos: „Ich denke über die technologische Revolution in unserer Gesellschaft nach.“Conny verdreht die Augen. „Du bist zu viel auf der Hochschule. Immer nur Philosophievorlesungen. Lass mal los!“
„Die erste kognitive Revolution verschaffte dem menschlichen Geist einen Zugang zum Intersubjektiven – was dazu führte, dass wir nun über den Planeten herrschen. Das war aber erst der Anfang. Heute werden mithilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen zwischen Körper, Gehirn und Computer neue Welten geschaffen. Heute kontrolliert unser Geist den Körper. Wir können uns die physische Verkleidung wählen, die wir haben wollen.“
Conny seufzt. „Und“, meint sie resignierend, weil sie merkt, dass sie mich nicht mehr abwürgen kann, „was hast du sonst noch in deinen schlauen Büchern gelesen?“
Mir graust vor mir selbst
Ich lecke mir über die Lippen. Der Wagen hält, wir steigen aus. „Eines ist jedenfalls sicher“, fahre ich fort, während ich neben Conny her hüpfe, „wir können heute viel mehr sein, als wir uns vorstellen können – Schönheits-OPs, Genmanipulation, Hormonbehandlungen, alles ist möglich. Wie . . . na ja, wie eben bei einem Maskenball.“– „Hm“, sagt Conny nur und öffnet die Tür. „Und bei so einem wären wir jetzt auch.“
Verrauchte Luft schlägt mir entgegen, als ich Conny in den mit Girlanden geschmückten Raum folge. Dietrich steht vom Tisch auf. Fast hätte ich ihn nicht erkannt in seinem engen roten Kleid. „Hey, schön, dass ihr da seid!“, meint er. Ich lächle verlegen, weil seine blonde Perücke und die geschminkten Lippen mich ein wenig irritieren.
„Hey!“, sage ich rasch, ohne ihn anzusehen. Dann wende ich mich wieder Conny zu, greife nach ihrer Hand, ziehe sie in Richtung Tanzfläche und beginne, mich zur Musik zu wiegen. Es ist, als kippte ich in eine andere Welt. Nach einiger Zeit aber bekomme ich ein komisches Gefühl. Ich merke, wie Dietrich mir immer wieder verstohlen einen Blick zuwirft. Ob ihm auffällt, wie groß meine Brüste sind? Mit einem Mal schäme ich mich für meinen Oberbau, von dem auch meine Elfenohren nicht ablenken können, leider. Ich krümme den Rücken. Das hilft. Dennoch: Die Brüste sind zu riesig, und sie hängen seit einigen Jahren. Ich sehe auf mich herab. Meine eigenen Beine in dem kurzen Rock kommen mir seltsam dürr vor. Das Hervortreten meiner Fußgelenksknöchelchen fällt mir besonders unangenehm auf.
„Na, wieso guckst du denn so?“Conny zieht mich an sich, und ich spüre ihren Körper gegen meinen knallen. Wie hart die Beckenknochen sind! Mir graust mit einem Mal vor mir selbst, vor meiner so banalen Körperlichkeit. Was mache ich hier?, denke ich da, und alle meine begeisterten Ideen in Sachen Selbstoptimierung sind mit einem Mal wie weggeblasen. Was für einen Sinn hat dieses Körpergerät, in dem ich mich durch die Welt bewege?
„Was überlegst du?“, fragt Conny. Ich versuche, etwas Kluges zu sagen: „Ich finde es interessant, dass der Neandertaler lange Zeit mit dem Homo sapiens konkurrierte, bevor er ausstarb.“Conny zieht eine Augenbraue in die Höhe. „Hä?“–„Dieser hatte ein weitaus größeres Gehirn als wir und wahrscheinlich Fähigkeiten, die uns heute fehlen. So kann ein Sapiens nicht verstehen, was es bedeutet, durch ein Echo einen Schmetterling zu orten – wie etwa eine Fledermaus.“Conny schnaubt und prustet : „Du bist besoffen! Lass uns was essen gehen.“
Hand in Hand streifen wir ins Nebenzimmer und blicken uns um. „Toll!“, meint Conny, und ich muss ihr recht geben. Ein riesengroßes, reich geschmücktes und mit Früchten verziertes Buffet ist auf einem großen Mahagonitisch aufgebahrt. Dietrich, der uns gefolgt ist, fasst mich am Arm. „Gefällt es euch?“, fragt er. Ich will nicken, besinne mich jedoch eines Besseren: Die Ohren dürfen nicht in Bewegung geraten! Neugierig und ohne große Gesten sehe ich mich um. Rauchschwaden hängen in der Luft, eine Katze mit Plüschohr-Haarreifen und Minirock stolziert an mir vorüber, ein Troll mit Rasta-Frisur, Pappnase und grün geschminktem Gesicht pustet mir Rauch in die Augen. Ich wende mich hustend dem Essen zu. Dietrich schiebt sich gefährlich eng an mich heran, während ich nach einem Teller greife. „Als was bist du eigentlich verkleidet?“, frage ich und nehme Abstand. Er lächelt: „Als Pamela Anderson. Willst du meine Silikonbrüste angreifen?“
Eigentlich wäre er eine schöne Frau
Mit zittrigen Fingern pappe ich wahllos Käse, Tomatenscheiben und ein wenig Schokokuchen auf meinen Teller. Wein ist jetzt das Beste, das lockert, sage ich mir. Ich atme schwer und höre Dietrich zu, der davon erzählt, wo er sein enges rotes Kleid und die wasserstoffblonde Perücke gekauft hat. Während des Gesprächs kippe ich ein Glas nach dem anderen hinunter, bis mir schlecht ist. Ich will jetzt nur noch beschwingt und leicht werden vom Alkohol. Da merke ich mit einem Mal, dass ich leer bin. Fast so, als hätte ich keinen Geist.
„Du bist heute irgendwie nachdenklich“, meint Dietrich plötzlich, und dann: „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet!“– „Welche?“– „Ob du meine Silikonbrüste angreifen willst!“Ich erstarre. Heute leidet die Menschheit unter der Krankheit Fear of Missing out, auch FOMO genannt, der Angst, etwas zu verpassen. So auch ich, die ich mich eigentlich gerade extrem unwohl auf dieser Party fühle, aber mich dennoch nicht losreißen kann, obwohl Dietrich mich anwidert. „Äh . . .“, stammle ich und betrachte ihn. Dietrich hat helle Haut und Augen wie Kristalle. Eigentlich wäre er eine ganz schöne Frau, eine nette zweite Pamela. Ich sehe die scharfen Konturen seines Gesichts im diesigen Licht an, sehe das Kinn, das sich meinem annähert, während wir sprechen, und kann mich nicht entziehen. Da geschieht es: Dietrich nimmt meine Hand und steckt sie in sein Dekolleté. Ich spüre etwas. Es ist glibberig, wie Plastik, eine Art Gelee, das zwischen meinen Fingern herumglitscht, erschrecke darüber, wie laut mein eigenes peinlich berührtes Lachen ist. „Igitt!“, entfährt es mir.
„Toll, oder?“, meint Dietrich. „Das sind Silikonbrüste! Heute kann man alles sein – Mann und Frau und alles dazwischen. Das Leben ist ein Maskenball.“Mir fällt dazu nichts ein. Habe ich nicht eben fast genau dasselbe zu Conny gesagt? Und warum fühlt sich diese Erkenntnis mit einem Mal so falsch an?
„Be the better version of yourself. Ich wollte immer schon wissen, wie Pam sich fühlt!“, fährt Dietrich fort und grinst. „Was will er von dir?“, fragt Conny da, die gerade neben uns auftaucht. „Keine Ahnung“, murmle ich. Dietrich indes macht einen Schritt auf mich zu und drückt mir die Handgelenke, dass es wehtut. Mit einem Mal erkenne ich, dass ich keine Lust mehr auf Karneval habe. Alles kommt mir seltsam hohl vor. Worum geht es im Leben? Wer oder was bin ich wirklich, jenseits des Körperlichen?
„Was willst du?“, frage auch ich Dietrich da. Er sieht mich an, und in seinem Gesicht scheint etwas auseinanderzubrechen. Plötzlich ist Selbstoptimierung kein Gedankenspiel mehr – und mit Party und Spaß hat es auch nichts zu tun. Dietrich wirkt uralt, als er mich ansieht und schließlich zu sprechen beginnt. „Frau. Ich denke, ich will eine Frau werden“, lallt er leise. „So, wie ich jetzt bin, passt es einfach hinten und vorne nicht!“
Ich strauchle, weiß nicht, was ich antworten soll – denn eben noch, auf der Tanzfläche, habe ich dasselbe über mich gedacht. Wir stecken zwischen Selbstoptimierung und völliger Identitätslosigkeit fest, weil wir alles sein können, begreife ich da. Es ist eine schockartige Erkenntnis, die durch mich hindurchfährt wie ein Blitz.
„Zum Glück gibt es Karneval“, sage ich, während ich die Elfenohren abnehme. „Da kannst du schon mal ausprobieren, wie sich das anfühlt, eine Frau zu sein. Oder?“Dann drehe ich mich um und gehe.
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