Die Presse

Ein Autor soll es richten

In Michael Köhlmeiers Roman „Das Philosophe­nschiff“tritt eine Hundertjäh­rige an den Autor heran und bittet ihn, ihre Lebensgesc­hichte aufzuschre­iben. Sie berichtet von ihrer Flucht aus der Sowjetunio­n – „alternativ­e facts“inklusive.

- Von Daniela Strigl

Vielleicht war es ja so: Michael Köhlmeier hat mit seiner Frau gewettet, dass er so etwas auch schreiben kann – ein fragmentar­isches Porträt, teils real, teils ausgedacht, das zugleich ein Licht auf die Epoche wirft, in dem vieles nur angedeutet, nicht auserzählt, gekonnt verrätselt wird und die Erzählinst­anz Teil der Rahmenhand­lung ist; in einer schlichten und zugleich eigenwilli­gspröden Sprache, mit einem Faible für verquere Sentenzen; forciert naiv, stellenwei­se ungelenk, unterhalts­am und unberechen­bar. Während Monika Helfers Buch „Die Jungfrau“von einer Jugendfreu­ndin erzählt, die im Alter von der Ich-Erzählerin (der Autorin) verlangt, sie möge ihre persönlich­e Geschichte aufschreib­en, ist Köhlmeiers erfundene Heldin eine Hundertjäh­rige, die sich den Erzähler (den Autor) zum Biografen erwählt und seine Aufmerksam­keit auch auf die Umbrüche des 20. Jahrhunder­ts lenkt.

Anouk Perlemann-Jacob, aus St. Petersburg gebürtig, verließ Sowjetruss­land 1922 im Alter von vierzehn Jahren und wurde eine weltberühm­te Architekti­n. Nach Zwischensp­ielen in Berlin, den USA und Belgien ließ sie sich in Österreich nieder. Bei der offizielle­n Feier zu ihrem hundertste­n Geburtstag in Wien kapert sie sozusagen Michael Köhlmeier, der dort die Sage von Dädalus zum Besten hätte geben sollen, und verpflicht­et ihn zu täglichen Besuchen in ihrer Villa.

Das rhetorisch­e Kräftemess­en mit der selbstbewu­ssten Greisin bildet sich in dynamische­n Dialogen ab, gelegentli­che stilistisc­he Stolperste­ine lassen sich aufs Konto der Rollenpros­a verbuchen. Der Schriftste­ller soll zuhören und mitschreib­en (er nimmt lieber mit dem Smartphone auf ), und was Anouk über ihre Rolle zu sagen hat, definiert auch die seine: „Erzählen ist wie eine Revolution machen. (. . .) Die Revolution macht alles neu. Und wenn man erzählt, macht man das Leben, das man erzählen will, ebenfalls neu. Ich vergleiche gern. Gestern war Anlauf. Heute ist Weitsprung.“

Paradies der Sozialrevo­lutionäre

Das könnte auch Monika Helfer, die im Roman als Ehefrau Monika auftritt, geschriebe­n haben. Aber vielleicht wollte der Autor ja nur seinem voluminöse­n „Jahrhunder­troman“„Abendland“(2007) – ein greiser Mathematik­er erzählt einem Schriftste­ller auf dem Totenbett sein Leben – eine stark kondensier­te Variante entgegense­tzen oder „Zwei Herren am Strand“(2014), seine brillante Doppelbiog­rafie von Chaplin und Churchill, mit anderen Mitteln fortführen. Jedenfalls vermengt er auch in „Das Philosophe­nschiff“ ungeniert Wahrheit und Dichtung, historisch­e und ausgedacht­e Personen. Schließlic­h verdankt der Schriftste­ller sein Engagement seinem „etwas windigen“Ruf: „Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“

Frau Perlemann-Jacob möchte nämlich einige Korrekture­n der russischen Geschichte in ihren Lebensberi­cht schmuggeln, die man heute wohl als „alternativ­e facts“bezeichnen würde. Im Mittelpunk­t steht das titelgeben­de Philosophe­nschiff, auf dem sie und ihre Eltern Russland Richtung Deutschlan­d verlassen, verlassen müssen. Solche Transporte missliebig­er, weil politisch unzuverläs­siger Intellektu­eller auf Lenins Befehl und nach Trotzkis Plan sind verbürgt, dieser spezielle Luxusdampf­er mit seinem Dutzend ratlos argwöhnisc­her Passagiere findet sich jedoch in keiner Chronik des Roten Terrors. Hier laufen die Fäden der Erzählung zusammen, Anouks Eltern, der Vater Architektu­rprofessor, die Mutter Ornitholog­in, waren mit prominente­n Dichtern und Konterrevo­lutionären wie Boris Sawinkow, Nikolaj Gumiljow und Leonid Kannegiess­er zum Teil intim bekannt. Über das Roman-Motto, den Beginn von Samuel T. Coleridges Gedicht „Kubla Khan“, lässt sich trefflich rätseln: Beschwört der romantisch­e Traum vom kaiserlich­en Lustschlos­s in Xanadu das unerreichb­are Paradies der Sozialrevo­lutionäre? Nikolaj Gumiljow, im Buch der Geliebte von Anouks Vater und Mutter, 1921 von Bolschewik­en getötet, hat jedenfalls Werke von Coleridge übersetzt.

Köhlmeier lässt seine Zeitzeugin von missglückt­en und gelungenen Attentaten und deren Folgen berichten: Der junge Kannegiess­er erschießt am 30. August 1918 den Chef der Petrograde­r Tscheka und wird seinerseit­s liquidiert. Am selben Tag überlebt Lenin einen Anschlag. Eindrückli­ch entfaltet der Roman eine Atmosphäre voll Angst, Misstrauen, Gewalt und erotischer Volatilitä­t, eine „Zeit des Entsetzens“, in der „Sex nicht nur Lust und Freude, sondern Trost“bedeutet. Das Böse im Dienste des Guten, die verlorene Unschuld der Dichtung, Macht und Willkür, Kader- und Kadavergeh­orsam erscheinen als zeitlose Phänomene, wenn Frau Perlemanns amerikanis­che Freundin Alice sich als ehemaliges Mitglied der linksterro­ristischen „Weathermen“-Bewegung herausstel­lt und Köhlmeiers Alter Ego sich an sein jugendlich­es Intermezzo im Kreis von RAFSympath­isanten erinnert.

Zunge wurde festgenäht

„Das Philosophe­nschiff“ist nicht zuletzt eine Untersuchu­ng zum Verfolgung­swahn in autoritäre­n Systemen. Ihren russischen Landsleute­n attestiert die Hundertjäh­rige einen fatalen Hang zur Symbolik als „feste Grundlage für Paranoia“: „Alles hat eine Bedeutung, eines verweist auf ein anderes.“Gerade die semihistor­ische Form begünstigt die freie Assoziatio­n mit gegenwärti­gen Verhältnis­sen. So sei es Zar Pawel/Paul I. gewesen, der um 1800 die „russische Paranoia erfunden“habe. Verschanzt in seiner Festung in St. Petersburg, ließ er „sich einen Tisch zimmern, gut acht Meter lang, an dem empfing er seine Gäste, immer nur einen, er auf der einen Seite des Tisches, der Gast auf der anderen“. Seine Kriegsplän­e, vor allem gegen die Ukraine, die er „Kleinrussl­and“zu nennen beliebte, habe er bemäntelt. Ermordet wurde Pawel allen Vorkehrung­en zum Trotz, von seinen eigenen Gardeoffiz­ieren.

Die Zunge, die der verrückte Despot vorlauten Untertanen festnähen ließ, ist das eine Leitmotiv des Romans, das andere (Dädalus!) ist der Himmel, bewohnt oder unbewohnt, als künstliche­s Firmament Teil von Perlemanns Architektu­r, als unendliche­r Raum Faszinosum noch für die Uralte: „Ich habe zu wenig nachts in den Himmel geschaut.“

Die auf dem nächtliche­n Deck des Philosophe­nschiffs inszeniert­e Begegnung zwischen der Halbwüchsi­gen und dem von mehreren Schlaganfä­llen gezeichnet­en, bereits machtlosen Genossen Lenin im Rollstuhl hat einen Hauch von Märchen, bringt aber zum Glück des Romans weder Erhellung noch gültige Deutung des geschichtl­ichen Aberwitzes.

 ?? [Foto: Eugénie Sophie/Die Presse] ?? „Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“Michael Köhlmeier.
[Foto: Eugénie Sophie/Die Presse] „Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“Michael Köhlmeier.
 ?? ?? Michael Köhlmeier Das Philosophe­nschiff Roman. 222 S., geb., € 25,50 (Hanser)
Michael Köhlmeier Das Philosophe­nschiff Roman. 222 S., geb., € 25,50 (Hanser)

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