Ein Autor soll es richten
In Michael Köhlmeiers Roman „Das Philosophenschiff“tritt eine Hundertjährige an den Autor heran und bittet ihn, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Sie berichtet von ihrer Flucht aus der Sowjetunion – „alternative facts“inklusive.
Vielleicht war es ja so: Michael Köhlmeier hat mit seiner Frau gewettet, dass er so etwas auch schreiben kann – ein fragmentarisches Porträt, teils real, teils ausgedacht, das zugleich ein Licht auf die Epoche wirft, in dem vieles nur angedeutet, nicht auserzählt, gekonnt verrätselt wird und die Erzählinstanz Teil der Rahmenhandlung ist; in einer schlichten und zugleich eigenwilligspröden Sprache, mit einem Faible für verquere Sentenzen; forciert naiv, stellenweise ungelenk, unterhaltsam und unberechenbar. Während Monika Helfers Buch „Die Jungfrau“von einer Jugendfreundin erzählt, die im Alter von der Ich-Erzählerin (der Autorin) verlangt, sie möge ihre persönliche Geschichte aufschreiben, ist Köhlmeiers erfundene Heldin eine Hundertjährige, die sich den Erzähler (den Autor) zum Biografen erwählt und seine Aufmerksamkeit auch auf die Umbrüche des 20. Jahrhunderts lenkt.
Anouk Perlemann-Jacob, aus St. Petersburg gebürtig, verließ Sowjetrussland 1922 im Alter von vierzehn Jahren und wurde eine weltberühmte Architektin. Nach Zwischenspielen in Berlin, den USA und Belgien ließ sie sich in Österreich nieder. Bei der offiziellen Feier zu ihrem hundertsten Geburtstag in Wien kapert sie sozusagen Michael Köhlmeier, der dort die Sage von Dädalus zum Besten hätte geben sollen, und verpflichtet ihn zu täglichen Besuchen in ihrer Villa.
Das rhetorische Kräftemessen mit der selbstbewussten Greisin bildet sich in dynamischen Dialogen ab, gelegentliche stilistische Stolpersteine lassen sich aufs Konto der Rollenprosa verbuchen. Der Schriftsteller soll zuhören und mitschreiben (er nimmt lieber mit dem Smartphone auf ), und was Anouk über ihre Rolle zu sagen hat, definiert auch die seine: „Erzählen ist wie eine Revolution machen. (. . .) Die Revolution macht alles neu. Und wenn man erzählt, macht man das Leben, das man erzählen will, ebenfalls neu. Ich vergleiche gern. Gestern war Anlauf. Heute ist Weitsprung.“
Paradies der Sozialrevolutionäre
Das könnte auch Monika Helfer, die im Roman als Ehefrau Monika auftritt, geschrieben haben. Aber vielleicht wollte der Autor ja nur seinem voluminösen „Jahrhundertroman“„Abendland“(2007) – ein greiser Mathematiker erzählt einem Schriftsteller auf dem Totenbett sein Leben – eine stark kondensierte Variante entgegensetzen oder „Zwei Herren am Strand“(2014), seine brillante Doppelbiografie von Chaplin und Churchill, mit anderen Mitteln fortführen. Jedenfalls vermengt er auch in „Das Philosophenschiff“ ungeniert Wahrheit und Dichtung, historische und ausgedachte Personen. Schließlich verdankt der Schriftsteller sein Engagement seinem „etwas windigen“Ruf: „Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“
Frau Perlemann-Jacob möchte nämlich einige Korrekturen der russischen Geschichte in ihren Lebensbericht schmuggeln, die man heute wohl als „alternative facts“bezeichnen würde. Im Mittelpunkt steht das titelgebende Philosophenschiff, auf dem sie und ihre Eltern Russland Richtung Deutschland verlassen, verlassen müssen. Solche Transporte missliebiger, weil politisch unzuverlässiger Intellektueller auf Lenins Befehl und nach Trotzkis Plan sind verbürgt, dieser spezielle Luxusdampfer mit seinem Dutzend ratlos argwöhnischer Passagiere findet sich jedoch in keiner Chronik des Roten Terrors. Hier laufen die Fäden der Erzählung zusammen, Anouks Eltern, der Vater Architekturprofessor, die Mutter Ornithologin, waren mit prominenten Dichtern und Konterrevolutionären wie Boris Sawinkow, Nikolaj Gumiljow und Leonid Kannegiesser zum Teil intim bekannt. Über das Roman-Motto, den Beginn von Samuel T. Coleridges Gedicht „Kubla Khan“, lässt sich trefflich rätseln: Beschwört der romantische Traum vom kaiserlichen Lustschloss in Xanadu das unerreichbare Paradies der Sozialrevolutionäre? Nikolaj Gumiljow, im Buch der Geliebte von Anouks Vater und Mutter, 1921 von Bolschewiken getötet, hat jedenfalls Werke von Coleridge übersetzt.
Köhlmeier lässt seine Zeitzeugin von missglückten und gelungenen Attentaten und deren Folgen berichten: Der junge Kannegiesser erschießt am 30. August 1918 den Chef der Petrograder Tscheka und wird seinerseits liquidiert. Am selben Tag überlebt Lenin einen Anschlag. Eindrücklich entfaltet der Roman eine Atmosphäre voll Angst, Misstrauen, Gewalt und erotischer Volatilität, eine „Zeit des Entsetzens“, in der „Sex nicht nur Lust und Freude, sondern Trost“bedeutet. Das Böse im Dienste des Guten, die verlorene Unschuld der Dichtung, Macht und Willkür, Kader- und Kadavergehorsam erscheinen als zeitlose Phänomene, wenn Frau Perlemanns amerikanische Freundin Alice sich als ehemaliges Mitglied der linksterroristischen „Weathermen“-Bewegung herausstellt und Köhlmeiers Alter Ego sich an sein jugendliches Intermezzo im Kreis von RAFSympathisanten erinnert.
Zunge wurde festgenäht
„Das Philosophenschiff“ist nicht zuletzt eine Untersuchung zum Verfolgungswahn in autoritären Systemen. Ihren russischen Landsleuten attestiert die Hundertjährige einen fatalen Hang zur Symbolik als „feste Grundlage für Paranoia“: „Alles hat eine Bedeutung, eines verweist auf ein anderes.“Gerade die semihistorische Form begünstigt die freie Assoziation mit gegenwärtigen Verhältnissen. So sei es Zar Pawel/Paul I. gewesen, der um 1800 die „russische Paranoia erfunden“habe. Verschanzt in seiner Festung in St. Petersburg, ließ er „sich einen Tisch zimmern, gut acht Meter lang, an dem empfing er seine Gäste, immer nur einen, er auf der einen Seite des Tisches, der Gast auf der anderen“. Seine Kriegspläne, vor allem gegen die Ukraine, die er „Kleinrussland“zu nennen beliebte, habe er bemäntelt. Ermordet wurde Pawel allen Vorkehrungen zum Trotz, von seinen eigenen Gardeoffizieren.
Die Zunge, die der verrückte Despot vorlauten Untertanen festnähen ließ, ist das eine Leitmotiv des Romans, das andere (Dädalus!) ist der Himmel, bewohnt oder unbewohnt, als künstliches Firmament Teil von Perlemanns Architektur, als unendlicher Raum Faszinosum noch für die Uralte: „Ich habe zu wenig nachts in den Himmel geschaut.“
Die auf dem nächtlichen Deck des Philosophenschiffs inszenierte Begegnung zwischen der Halbwüchsigen und dem von mehreren Schlaganfällen gezeichneten, bereits machtlosen Genossen Lenin im Rollstuhl hat einen Hauch von Märchen, bringt aber zum Glück des Romans weder Erhellung noch gültige Deutung des geschichtlichen Aberwitzes.