Ein Kind des alten Österreich
Er brillierte in allen Gattungen der Dichtkunst und war einer der wichtigsten Repräsentanten der Wiener Moderne. Zu seinem 150. Geburtstag erscheint nun unter dem Titel „Grenzenlose Verwandlung“die erste umfassende Biografie Hugo von Hofmannsthals.
Die literarische Moderne ist in die Jahre gekommen – so sehr, dass sich der Geburtstag ihres vielleicht vielseitigsten deutschsprachigen Autors am 1. Februar 2024 bereits zum 150. Mal gejährt hat. Der in den frühen 1890er-Jahren als blutjunges „Genie“auf den Plan tretende Hugo von Hofmannsthal gilt als wichtigster Vertreter der österreichischen und spezifisch der Wiener Literatur seiner Zeit, die damals zum ersten Mal eine führende Rolle in Europa beanspruchte.
Im Unterschied zu seinem Konkurrenten, Kombattanten und Freund Arthur Schnitzler oder zu ihrem gemeinsamen Gegner Karl Kraus brillierte Hofmannsthal in sämtlichen Gattungen der Dichtkunst, ja sogar in der literarischen Essayistik, und wurde auch schon früh international wahrgenommen. Umso erstaunlicher war bisher die Tatsache, dass es – im Unterschied zu fast allen wichtigen Schriftstellern seiner Generation – keine umfassende Biografie gab, und das trotz zahlreicher Vorarbeiten und einschlägiger Anläufe.
Die 2019 erschienene und immerhin 608 Seiten umfassende „Lebensgeschichte“des deutschen Historikers Herbert Hömig konnte diese Lücke nicht beseitigen, gilt sie doch als fleißige Kompilation von Heterogenem und Unverdautem, die keine eigene Perspektive zu entwickeln vermag und die eine bestehende Konfusion eher vertieft als beseitigt. So mussten sich interessierte Leserinnen und Leser auf der Suche nach biografischer Orientierung nach wie vor an Werner Volkes verdienstvolle kleine Rowohlt-Bildmonographie (1967) halten, an Ulrich Weinzierls anregende „Skizzen“zu Hofmannsthals „Bild“(2005) oder an Wilhelm Hemeckers und Konrad Heumanns lesenswertes Buch über Hofmannsthals „Orte“(2014), sieht man einmal vom „Hofmannsthal-Handbuch“ab, mit dem Mathias Mayer und Julian Werlitz 2016 eine zeitgemäße Synthese der literaturwissenschaftlichen Hofmannsthal-Forschung zur Verfügung stellten.
Pünktlich zum Jubiläum erscheint nun ein Wälzer von 896 Seiten aus der Feder von – wie könnte es anders sein – zwei in der Schweiz arbeitenden deutschen Philologen, der einen neuen Standard in der Hofmannsthal-Biografik etabliert und Maßstäbe für die kommenden Jahrzehnte setzt, während es hierzulande in Sachen dieses Autors auch zum Jubiläumsjahr erstaunlich ruhig geblieben ist. Genauer gesagt handelt es sich beim angezeigten Band um zwei Bücher in einem, nämlich um einen insgesamt 31 Kapitel umfassenden biografischen Teil, der sich keineswegs in lebensgeschichtlichen Details erschöpft, sondern systematisch die Brücke zum literarischen Werk schlägt, und in einen dazwischen auf vier Abschnitte aufgeteilten zweiten Teil, der sich aus insgesamt neun Kapiteln zusammensetzt und intensive exemplarische „Lektüren“wichtiger Hofmannsthal-Texte bietet. Während der von Elsbeth Dangel-Pelloquin verantwortete erste Teil auf der Grundlage langjähriger Forschungen erzählerisch das aspektreiche Leben des berühmten Dichters rekonstruiert und umsichtig in seinen sozial-, kultur- und literaturgeschichtlichen Kontext einbettet, ergänzt es der von Alexander Honold verfasste kürzere Teil um ausgreifende Textexegesen, deren germanistische Herkunft und literaturwissenschaftliche Ambition auch stilistisch nicht zu verkennen ist.
Diese Aufteilung hat den Vorteil, dass das vornehmlich an der Biografie interessierte Publikum die textanalytische Passagen überblättern kann, während die philologisch Geschulten, die der stärker wissenschaftliche Sound nicht abschreckt, kein zweites Buch mit Interpretationen erwerben müssen, sondern hier ebenfalls auf ihre Kosten kommen. Dass dieser unbestreitbare Vorteil von gewissen fast unvermeidlichen Redundanzen – manchmal sogar innerhalb des biografischen Teils – erkauft wird, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin erlaubt dieses Strukturmerkmal aber eine abschnittsweise Lektüre des Buchs, das aufgrund seines Umfangs kaum jemand in einem Zug durchlesen kann.
Wohltuend ist dabei der zwar einfühlsame, aber keineswegs unkritische Blick auf einen einzigartigen Autor, dessen Werkbiografie gleichwohl Schattenseiten aufweist. Dies wird schon in den Abschnitten zum merkwürdig altersklugen Frühwerk Hofmannsthals deutlich, der als überbehütetes Einzelkind keine richtige Kindheit gehabt zu haben scheint und der bis zu seiner Heirat mit Gerty Schlesinger im Alter von 27 Jahren bei seinen Eltern wohnte. Besonders klar aber wird es in den Passagen über die schwierigen Schreibphasen und ideologiegeschichtlich problematischeren Projekte in sowie vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Ausgang beim überzeugten Altösterreicher eine veritable Lebenskrise auslöste.
Was die biografische Aufgabe nicht erleichtert, ist der Umstand, dass es sich bei Hofmannsthal um einen Dichter handelt, dessen Texte nur sehr vermittelt aus seinen lebensgeschichtlichen Erfahrungen schöpfen, in erster Linie aber aus seiner schier unendlichen Auseinandersetzung mit der gesamten Weltliteratur. Hier dennoch sinnvolle Bezüge zwischen Leben und Werk herzustellen, ohne biografistische Kurzschlüsse zu produzieren, ist nicht einfach. Dieses Vorhaben wird – das sei betont – von den Verfassern auf bravouröse Weise gemeistert.
Die von Dangel-Pelloquin und Honold gewählte Formel für die Vermittlung von „life and letters“lautet dementsprechend, dass „ihre Beziehung zueinander (. . .) weniger von kausaler als von komplementärer Art“sei, wie es in der Einführung treffend heißt. Die Darstellung ist frei von jenen Simplifizierungen, die aus vergleichbaren Unternehmungen sattsam bekannt sind, indem dort etwa Leerstellen der Texte durch biografische Details scheinbar stimmig ergänzt und Unklarheiten des Lebens durch einen Blick in die Texte scheinbar schlüssig ausgeräumt werden. Im Gegensatz dazu vermag es hier die intime Kenntnis des Hofmannsthal’schen Lebens und Werks sowie der Literaturgeschichte, die Vorliebe dieses Autors für bestimmte Stoffe, Motive, Thematiken und Verfahrensweisen zu erklären, die in unterschiedlichen Kombinationen lebenslang wiederkehren. Dazu zählt auch das Phänomen einer unerhörten Anpassungs- und Verwandlungsfähigkeit, die den Titel des Bandes begründet.
g