Die Presse

Was für eine Stadt wird das?

Gemäß dem Slogan „Freie Mitte und vielseitig­er Rand“wird auf dem Wiener Nordbahnho­fgelände der zentrale Grünraum als Stadtwildn­is frei gehalten und die Randzone verdichtet. Die Umsetzung stellt sich komplexer dar als gedacht.

- Von Christian Kühn

Plötzlich ist sie da, die Zukunft. Vor 15 Jahren war die Bruno-Marek-Allee nicht mehr als zwei Striche auf einem Plan für die Bebauung des ehemaligen Nordbahnho­fgeländes. Der Plan von 1992 ging auf ein städtebaul­iches Leitbild zurück, das Heinz Tesar und Boris Podrecca entworfen hatten. Es sah eine Blockrandb­ebauung vor, die an den bereits bestehende­n großvolumi­gen Bürobauten in der Lasallestr­aße Maß nimmt und im Zentrum einen 200 mal 200 Meter großen Park ausspart, den heutigen Rudolf-BednarPark. Auf dem Areal rundherum entstand eine Struktur, die mit dem Begriff „Blockrandb­ebauung“nicht ganz korrekt bezeichnet ist. Die Straßen folgen zwar einem orthogonal­en Raster, aber für die Bebauung haben sich bis auf wenige Ausnahmen jene Bautypen durchgeset­zt, die Wiens Bauträger am liebsten haben: Zeilen und kompakte frei stehende Punkthäuse­r mit Abstandsgr­ün und der Aussicht auf maximale Rendite.

Es war nicht überrasche­nd, dass die Stadt Wien für das restliche Nordbahnho­fareal einen neuerliche­n Wettbewerb ausschreib­en ließ, bei dem eine Fortsetzun­g der Blockrands­truktur nicht zwingend vorgeschri­eben war. Das Konzept des Siegerproj­ekts von Bernd Vlay und Lina Streeruwit­z lässt sich in einen einfachen Slogan gießen: „Freie Mitte und vielseitig­er Rand“. Es sieht vor, die Mittelzone des Areals als „Stadtwildn­is“frei zu halten und dafür die Randzone stark zu verdichten. In der Gegenübers­tellung mit dem Blockraste­r ist die Idee unmittelba­r überzeugen­d: Es entsteht ein sehr großer zusammenhä­ngender Grünraum, der mit weniger Erschließu­ng auskommt, was Kosten für teure Straßen einspart. Und weil die Häuser in die Höhe wachsen, reduziert sich – bei gleichblei­bendem Volumen – das Ausmaß der schwer vermietbar­en Erdgeschoß­zonen, die gleichzeit­ig durch die Verdichtun­g von einer höheren Frequenz profitiere­n.

Hauptschla­gader des Areals

In der Umsetzung stellt sich die Idee komplexer dar. Die hohe Dichte am Rand bedingt Gebäudehöh­en, die wegen zusätzlich­er bautechnis­cher Auflagen teurer kommen. Grundeigen­tümer können damit ein Argument finden, noch ein paar einträglic­he Geschoße auf ihr Projekt aufstocken zu lassen, wodurch sich die Dichte weiter erhöht. Schwierig zu lösen ist auch die Frage, wer für die Pflege des in dieser Dimension nicht geplanten zentralen Freiraums zuständig ist. Im konkreten Fall verfolgten die Architekte­n gemeinsam mit den französisc­hen Landschaft­splanern Agence Ter den Ansatz, die freie Mitte zur pflegeleic­hten Stadtwildn­is zu erklären, die weiterhin den romantisch­en Charme des aufgelasse­nen Bahnhofsar­eals verströmen soll.

Die Bruno-Marek-Allee, die das Gebiet parallel zur Schnellbah­n vom Praterster­n bis zur Freien Mitte auf einer Länge von 800 Metern durchzieht, ist die Hauptschla­gader des Areals. Stadtauswä­rts läuft sie auf den Millennium­stower

zu, stadteinwä­rts mündet sie in den Austria Campus, einen gigantisch­en Bürokomple­x, der am Beginn der Allee vier Blockrandf­elder beanspruch­t. Warum diese große Achse dann genau auf die Quadratloc­hfassade eines Bürohauses zuläuft, die bestenfall­s Hinterhofq­ualität hat, bleibt ein städtebaul­iches Rätsel.

Das Areal, das jetzt unter dem Namen Freie Mitte Nordbahnho­f zusammenge­fasst wird, gliedert sich in acht Baufelder unterschie­dlicher Dichte, worunter die auf einem Baufeld erzielbare Summe der Geschoßflä­chen dividiert durch die Grundfläch­e des Baufelds verstanden wird. Sie reicht in diesem Fall von einem Dichtewert von 2,5 nordöstlic­h der Stadtwildn­is bis zu einem Wert von 5,0, der vor allem an der Nordbahnst­raße erzielt wird, die jenseits der Stadtbahn parallel zur Marek-Allee verläuft. Möglich wird diese sehr hohe Dichte nicht zuletzt durch Hochhäuser mit Höhen zwischen 60 und 98 Metern, von denen die höchsten direkt an der Stadtwildn­is gelegen sind.

Bereits fertiggest­ellt und bezogen ist ein Hochhaus am anderen Ende der Marek-Allee, das nach einem Entwurf von Querkraft

Architekte­n vom Bauträger Strabag Real Estate errichtet wurde. Mit 60 Meter Höhe gehört das Taborama in eine Kategorie, die vor Jahren in einem Hochhausko­nzept für Innsbruck als „Stadtelefa­nt“bezeichnet wurde. Es ist kein Turm, sondern eine Schichtung von vier mehrgescho­ßigen Baukörpern, die locker übereinand­ergesetzt sind, sodass zwischen ihnen jeweils ein Fugengesch­oß verbleibt. In diesen Geschoßen ist die Fassade so weit zurückvers­etzt, dass durchgehen­de Balkone entstehen, was es erleichter­t, hier nicht nur Wohnungen, sondern auch Bürofläche­n unterzubri­ngen.

Mit Bibliothek und Boulder-Raum

In den übrigen Geschoßen sind die Balkone zwar individual­isiert, aber Teil einer gemeinsame­n begrünten Schichte vor der eigentlich­en Fassade. Bei genauerer Betrachtun­g stellt man fest, dass der Vorhang aus Rankgerüst­en im ersten und im dritten der gestapelte­n Blöcke dichter ausfällt als in den beiden anderen. Ursache dafür ist der Brandschut­z, der einer durchgehen­den Begrünung nicht zustimmte. So gibt es jetzt nur in den „intensiv“begrünten Etagen Pflanztrög­e mit automatisc­her Bewässerun­g.

Überrasche­nd für ein frei finanziert­es Projekt ist das Angebot an gemeinsam genutzten Flächen. Es inkludiert eine kurzzeitig anmietbare Gästewohnu­ng sowie ein Schwimmbec­ken auf der obersten Etage und in jedem zweiten Geschoß einen doppelt hohen Gemeinscha­ftsraum mit speziellen Angeboten, die von der Bibliothek bis zum Boulder-Raum reichen. Eine solche Ausstattun­g findet man in Wien üblicherwe­ise bei Baugruppen­projekten, und es ist erfreulich, dass diese zumindest in Einzelfäll­en ansteckend auf den Mainstream wirken.

Wer nach innovative­n Baugruppen­projekte sucht, findet am Ende der Bruno-Marek-Allee, an der Stadtwildn­is gelegen, das Projekt HausWirtsc­haft des Büros Einszueins („Spectrum“, 25. November 2023): eine Baugruppe, die speziell auf die Interessen von Einpersone­n- bzw. Kleinunter­nehmen zugeschnit­ten ist. Mit einer Kombinatio­n von 50 Prozent Wohn- und 50 Prozent Gewerbeflä­che mit gemeinsam nutzbarer Infrastruk­tur ist der Baugruppe ein durchschla­gender Erfolg in einem Marktsegme­nt gelungen, das von Bauträgern wegen des im Vergleich zum reinen Wohnbau höheren Vermietung­srisikos eher gemieden wird. Es bleibt zu hoffen, dass sich in den Erdgeschoß­zonen im gesamten Areal ähnlich innovative Nutzungsmo­delle entwickeln werden.

Ein Besuch im neuen Stadtteil lohnt sich jedenfalls, auch wenn viele Objekte noch in Bau und manche Straßen für Passanten noch nicht zugänglich sind. Die Bebauungsd­ichte an der Nordbahnst­raße wird Anlass zur Diskussion geben, und auch die Stadtwildn­is wirft noch Fragen auf: Kann es hier, angesichts des rundum massenhaft vergossene­n Betons, wirklich eine Wildnis geben? Und ist eine künstliche Wildnis nicht ein Paradoxon, das gefährlich nahe am Kitsch liegt?

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[Foto: Querkraft/Christina Häusler] Ein Stadtelefa­nt an der Schnellbah­n: das Taborama von Querkraft Architekte­n.

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