Lehrer, die die Seiten wechseln Urlaub in der Nebensaison, Gleitzeit, Teamarbeit – für ein Jahr können Lehrkräfte im Rahmen von „Seitenwechsel“das Klassenzimmer hinter sich lassen und einen Ausflug in die Privatwirtschaft unternehmen.
Warum lernen wir das überhaupt? Das brauche ich nie wieder im Leben!” Aussagen, die Eltern und Lehrer wohl nicht nur einmal gehört haben. Und die auch Wahrheit in sich bergen, wie Nilufar Hedjazi einräumt. „Die Schule ist eine Blase, sie funktioniert anders als die Privatwirtschaft”, sagt die Lehrerin an einem Wiener Realgymnasium. Seit zehn Jahren unterrichtet sie neben Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Politischer Bildung auch Berufsorientierung. Normalerweise. Denn seit September des Vorjahrs arbeitet sie, befristet für ein Jahr, im Schulbuchverlag ÖBV im Content-Bereich, wo sie Autoren betreut, die Fortbildungseinheiten und/oder Unterrichtspakete erstellen. „Ich habe mich gefragt, was es außerhalb der Schule noch so gibt“, erklärt sie ihre Motivation, für ein Jahr umzusteigen. „Als Berufsorientierungslehrerin bereite ich Schüler auf Bewerbungsgespräche vor. Jetzt habe auch ich mich einem klassischen Bewerbungsprozedere stellen müssen – zum ersten Mal in meinem Leben.”
Das Projekt „Seitenwechsel” ermöglicht Lehrpersonen für ein Jahr, in die Privatwirtschaft zu wechseln. Treibende Kraft hinter der Initiative ist Gründer Erwin Greiner. „Es hat mich zeit meines Berufslebens gestört, dass von uns Pädagogen erwartet wird, Kinder auf eine Welt vorzubereiten, die wir nicht aus eigener Erfahrung kennengelernt haben”, erläutert Greiner. Er war selbst AHS-Lehrer, später auch Schuldirektor. Für „Seitenwechsel“, das 2020 startete, ließ er sich von einem Projekt in Bayern inspirieren, dessen Konzept Greiner in Absprache mit den bayerischen Initiatoren auf hiesige Verhältnisse adaptierte.
Das Programm dauert insgesamt 24 Monate. Das erste Jahr verbringt die Lehrkraft als Mitarbeiter in einem Unternehmen, das das Gehalt und die Lohnnebenkosten übernimmt. Formal handelt es sich bei dem „Seitenwechsel“-Jahr um eine Karenz unter Entfall der Bezüge. Diese wird durch die jeweilige Bildungsdirektion genehmigt. „Wir würden uns aus Gründen der Planungssicherheit eine Art Garantie für eine Handvoll Karenzierungen wünschen, aus allen neun Bundesländern“, sagt Greiner.
Die Relevanz für Schulen sei jedenfalls gegeben, meint er. Kernaufgabe der Seitenwechsler ist schließlich, im Partnerunternehmen ein Projekt zu erarbeiten, das ihrer Schule zugutekommt. Im zweiten Jahr kehren sie damit in die Schule zurück. Robert Donner hat als Direktor in seiner Schule Erfahrung damit: Anfangs war er „Seitenwechsel“gegenüber skeptisch eingestellt. „Ich hatte Sor- ge, eine Lehrkraft unter dem Deckmantel des Seitenwechsels zu verlieren.” Die andere Befürchtung: in Zeiten des Lehrermangels auf die Schnelle jemanden zu finden, der eine befristete Dienststelle übernehmen möchte. Greiner relativiert: „Wir haben in den Sekundarstufen I und II rund 90.000 Lehrpersonen in Österreich. Wenn es nicht möglich ist, für fünf bis zehn Lehrer pro Jahr befristet Ersatz zu finden, dann haben wir ein großes Problem im System.“
Die Kunstlehrerin an Donners Schule kehrte mit einem Projekt zum Thema Onboarding an die Schule zurück. „Sie gab mir den Anstoß, Prozesse an der Schule zu verändern. Seither sind wir mit dem Partnerunternehmen in Kontakt, das hat ein Netzwerk für mich als Schulleiter geschaffen.” Einen weiteren Vorteil sieht er nun: Die Lehrkräfte werden professionalisiert. „Im Unternehmen arbeitete die Lehrerin ein Jahr lang als Grafikerin, sie ist dadurch kompetenter geworden. Den Aspekt hätten wir ihr nicht bieten können.”
Etwa 50 Personen bewerben sich jährlich für das Programm, ausgewählt werden rund 15 bis 20. „Für ein erfolgreiches Matching braucht es natürlich eine angemessene Entfernung zwischen potenziellen Seitenwechslern und den zu ihnen passenden Unternehmen.“Dabei handelt es sich um Firmen, die finanziell in der Lage und willens sind, eine zusätzliche Person einzustellen.
Auch Clemens Pöschko hat für ein Jahr den Klassenraum gegen ein modernes Büro getauscht. Sein derzeitiger Arbeitgeber: Ikea. Auf den Vorstoß Pöschkos, für ein Jahr in die Privatwirtschaft zu wechseln, habe die Direktion seiner Schule positiv reagiert. „Ich wollte raus aus den Routinen und mich in neue Gewässer begeben.“Am Gymnasium unterrichtet Pöschko Englisch, Geografie und Wirtschaftskunde. „Viele meiner Schüler werden einmal in der Privatwirtschaft tätig sein, eine Verbindung herzustellen ist daher sinnvoll.”
Bei Ikea ist er zurzeit im FoodBereich die rechte Hand der Abteilungsleitung, wirkt bei der Umbauplanung und im Bereich Human Resources mit – und er gibt den Kollegen Englischunterricht. „Sie sind verwundert über die kreativen
Unterrichtsmethoden, die ich ihnen anbiete.” Überhaupt sei er überrascht, wie gut er seine Kompetenzen in das Unternehmen einbringen könne: „Ich merke, dass meine Flexibilität hier gebraucht wird. Da sind wir Lehrer einfach belastbarer. Wir können mit großem, sich veränderndem Workload umgehen.”
Er selbst nehme einiges an neuen Fähigkeiten mit – etwa produktiv im Team zu arbeiten. Auch Hedjazi lerne viel, vor allem über sich – darüber, wie und unter welchen Umständen sie gut arbeiten könne. Einiges aus der Privatwirtschaft würde sie sich und ihren Kollegen an der Schule wünschen, meint Hedjazi und kommt auf die, wie sie sagt, „katastrophalen“Rahmenbedingungen in Schulen zu sprechen: Starre Unterrichtseinheiten, fehlende Ruheplätze oder mangelnde Unterstützung im administrativen Bereich. Beim ÖBV schätze sie zudem, in einem Gleitzeitmodell zu arbeiten, und die Möglichkeit, Arbeit und Freizeit zu trennen.
Hedjazi wird daher mit einem Projekt an die Schule zurückkehren, das Lehrergesundheit fördern soll. Auch sie selbst werde in ihrer Work-Life-Balance vieles ändern. „Wenn es mir gut geht, kann ich auch meinen Schülern mehr geben.” Schon jetzt sei klar, der Umstieg auf Zeit habe sich gelohnt : „Lehrer sind Vermittler. Ich habe meinen Schülern immer Geschichten aus meinem Leben erzählt, um damit Inhalte zu vermitteln. Mir sind in letzter Zeit die Geschichten ausgegangen. Jetzt werde ich mit neuen Geschichten in die Schule zurückkehren.”