Der Schmerz der Herkunft
Der Erzählband „Der Fluss und das Meer“von Natascha Wodin scheint durchwegs autobiografisch grundiert. Trotz der hervorragenden Stilistik bleiben gemischte Gefühle.
Das Format der Erzählung fristet im deutschsprachigen Raum aktuell ein unterbelichtetes Dasein. Das ist nicht überall so, man denke an die Nobelpreisträgerin Alice Munro, die auf wenigen Seiten ganze Welten greifbar machen kann (und die bekundete, die kurze Form sei ihr in einer Zeit, da Kinder, Küche, Kirche das Leben von Frauen dominierten, sehr entgegengekommen).
Dass Natascha Wodin nun einen Erzählband vorlegt, dessen dramaturgischer Bogen im Motiv des Wassers mit seinem bedeutsamen Schillern liegt, ist zunächst begrüßenswert, und Wodins Sprache lädt in seinem konsistenten, eleganten Fließen sofort ein, ihr zu folgen.
Auf den zweiten Blick stellt die Leserin fest, dass hier hauptsächlich Bearbeitungen älterer Texte vorliegen, und es drängt sich die Frage auf, worin die Notwendigkeit dieser spezifischen Kollektion liegt.
Es sind Ich-Erzählungen, die den Schluss nahelegen, dass es sich um autobiografisch grundierte Sequenzen handelt: Stets ist die Hauptfigur eine Frau, meistens eine schreibende, die ihre Utensilien gern in maroden Behausungen aufschlägt, um dort zu arbeiten; immer schwingt der Schmerz der Herkunft mit. Wer Wodins Bücher kennt, weiß um ihren Hintergrund: Geboren 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter, verbrachte sie ihre früheste Kindheit in Lagern für „Displaced Persons“, also für die Entwurzelten der allerfrühesten Nachkriegszeit. Ihre Mutter – auch das wissen treue Leserinnen und Leser – brachte sich um, als Natascha Wodin elf Jahre alt war. Eine kurze Recherche zur Arbeitsweise Wodins bringt zutage, dass ihr Erfolgsroman „Sie kam aus Mariupol“die einzige Arbeit ist, die tatsächlich Klarnamen benutzt und sich eindeutig um die Mutter dreht. Andere Texte sind autofiktional grundiert, erlauben also eine gewisse Abstraktion.
Klar tritt eine Haltung zutage, die nicht nur imstande ist, grausame Überbleibsel von Nazi-Verhaltensmustern der Nachkriegszeit zu benennen – zum Beispiel im scharfen Begriff der „blutrünstigen Biederkeit“–, sondern auch eine schwierige Eigenverantwortung der Betrachterin dieser Verhältnisse sieht, vor allem dann, wenn es um den Ausschluss unliebsamer Personen aus der „guten Gesellschaft“geht: so in der Erzählung „Nachbarinnen“oder in „Notturno“, in dem die Erzählerin mit einem Mann in Brieffreundschaft tritt, der nach einem Suizidversuch dauerhaft in die Psychiatrie abgeschoben worden ist.
An anderer Stelle bleibt die Art, aus dem eigenen Verhalten der Ich-Erzählerin heraus große gesellschaftliche Verwerfungen zu benennen, seltsam kraftlos. Die Erzählung „Das Singen der Fische“berichtet im zeitlichen Weitwinkel von einer Asienreise der Erzählerin als Jugendlicher in den Siebzigerjahren: Neben zweifellos gelungenen atmosphärischen Beschreibungen bleibt als bitterer Nachgeschmack die Unfähigkeit, mit den Personen vor Ort in echte Kommunikation zu treten – was sehr nachvollziehbar scheint, ist im Grunde ein banaler Text über das Erkennen von Unrecht und Fremdheit, wie er wohl unzählige Male schon geschrieben worden ist, in Wodins Händen bloß stilistisch besser gearbeitet.
Auch die letzte Erzählung, „Les Sablesd’Olonne“, vereint großes Können im Ausdruck mit einer solipsistischen Haltung, die letztlich unangenehm berührt. Ja, das eigene Leiden ist groß. Ja, hier wird klar dargestellt, wie historisches Unrecht, das die Vorfahren erlitten haben, sich im eigenen Trauma fortpflanzt. Dennoch bleiben alle anderen Menschen im Umfeld Schattenfiguren, denen die Erzählerin eine eigene Stimme nicht zuzugestehen scheint.