General Saluschnij trotzt Selenskij
Im Machtkampf mit dem Präsidenten äußert sich der Armeechef erneut in den Medien. Er will mehr Soldaten und Munition.
Er hat es wieder getan. Er hat sich wieder in den internationalen Medien zu Wort gemeldet. Womöglich ist es der letzte Essay von Valerij Saluschnij als General der ukrainischen Streitkräfte. Am Donnerstagabend erschien auf der Webseite des US-Fernsehsenders CNN ein Meinungsstück des ukrainischen Oberkommandierenden.
Der Zeitpunkt ist explosiv. In der Ukraine ist der Konflikt zwischen Saluschnij und Präsident Wolodymyr Selenskij am Kochen. Die seit Ende letzten Jahres kursierenden Ablösegerüchte haben sich erneut verstärkt. Dem Vernehmen nach legte Selenskij dem populären General mit Hang zu Alleingängen vor ein paar Tagen den Rücktritt nahe. Selenskijs Plan ging nicht auf: Saluschnij verweigerte den freiwilligen Abgang, mögliche Nachfolger lehnten ab, die Öffentlichkeit erfuhr von der Sache. Vom „Kommunikationschaos“im Präsidentenamt ist die Rede, das seine Beamten nicht unter Kontrolle habe.
Warnung vor „Stellungskrieg“
Schon Saluschnijs erster Beitrag für den „Economist“vor einigen Wochen hatte für Unruhe in Selenskijs Headquarter gesorgt. Der General hatte angesichts der schwierigen Versorgungslage an der Front vor einem Patt im russisch-ukrainischen Krieg gewarnt. Das um eine positive Optik bemühte Präsidentenamt widersprach energisch: Davon könne keine Rede sein. Man fürchtete, dass sich der pessimistische Ausblick auf die Hilfsbereitschaft der internationalen Unterstützer auswirken und der Druck auf Kiew zu Verhandlungen mit Moskau steigen würde.
In seinem neuen Beitrag, der laut CNN vor dem aktuellen Eklat verfasst wurde, hält Saluschnij an seiner Wortwahl fest. Wieder spricht er von der Gefahr des Stellungskriegs, würde nicht energisch in neue Militärtechnologien investiert werden: etwa in unbemannte Flugkörper wie Drohnen, aber auch in andere Systeme, die eine stärker „kontaktlose“Kriegsführung ermöglichen, um eigene Verluste zu minimieren. Angriffe auf russische Kriegsinfrastruktur und Kommunikationslinien sowie Operationen im Cyberspace sollen zunehmen.
Einige dieser Aspekte hat die militärische Planung bereits aufgegriffen, wie etwa die verstärkten Drohnenangriffe im russischen Hinterland auf Ölterminals und Industrie. Innerhalb von fünf Monaten soll die Ukraine ein neues staatliches System zur technologischen Aufrüstung schaffen, fordert Saluschnij weiter.
Eine der großen Herausforderungen für 2024 sei die nachlassende ausländische Militärhilfe, so Saluschnij, der ebenso die „Schwäche des internationalen Sanktionsregimes“kritisiert. Die Ukraine muss sich bei der Verteidigung stärker auf eigene Beine stellen: Das ist eine der bitteren Lehren, die Kiew aus den zeitraubenden europäischen Debatten über Waffenlieferungen und angesichts des möglichen politischen Kurswechsels in den USA zieht.
Und Russland? Der General notiert die Überlegenheit Moskaus bei der Mobilisierung von „Humanressourcen“, also Soldaten. Hier erlaubt er sich einen Seitenhieb auf die Bürokratie. Die Verteidiger hätten mit der „Unfähigkeit der staatlichen Institutionen“zu kämpfen, die „unpopuläre Maßnahmen“fürchteten.
Streit um Mobilisierung
Damit spricht der Militär das Thema Mobilisierung an. Der General hätte gern viele neue Rekruten, bis zu 500.000 nämlich, die er an die Front schicken kann. Der Präsident muss dagegen die soziale Verträglichkeit der Mobilmachung und ihre finanziellen Kosten stärker berücksichtigen. Er muss für die Folgen des Kriegs geradestehen, nicht Saluschnij. Aktuell wird im Parlament bereits der zweite Gesetzesentwurf der Regierung über verschärfte Mobilmachungsmaßnahmen diskutiert. Der erste ist abgelehnt worden. Dem Militärchef geht der Entscheidungsprozess nicht schnell genug.
Der 50-Jährige kritisiert ebenso die „teilweise Monopolisierung der Rüstungsindustrie“in der Ukraine. Es gebe aufgrund rechtlicher Beschränkungen
Produktionsengpässe etwa bei Munition. „Das vertieft die Abhängigkeit der Ukraine vom Nachschub der Verbündeten.“
Selenskijs Dilemma
Saluschnijs Kommentar inmitten des sich zuspitzenden Konflikts mit dem Staatschef zeigt, dass der General nicht zu schweigen bereit ist. Saluschnij positioniert sich als Überbringer bitterer Wahrheiten, als strategischer Denker, der es besser weiß (als sein Präsident).
Freilich riskiert er mit einer Veröffentlichung zu diesem Zeitpunkt, dass die inhaltlichen Forderungen in den Spekulationen um seine Person untergehen. Ob er mit Alleingängen dieser Art sich und der Ukraine etwas Gutes tut, ist fraglich. Die russische Propaganda nimmt die Männerfehde jedenfalls dankbar auf. Für Selenskij ist dieser erneute Kommentar ein Affront. Bleibt Saluschnij auf seinem Posten, lässt es den Präsidenten schwach aussehen. Eine Fortsetzung des Konflikts ist garantiert. Setzt der Präsident den aufmüpfigen General ab, dann hat er sich wohl endgültig einen Feind geschaffen – und womöglich einen politischen Gegner.