Die Presse

In der Demokratie geht das Recht nicht von der Straße aus

Europas Politiker knicken in Windeseile vor den Wutbauern ein. Sie legitimier­en damit all jene, die ihre Ziele mit Gewalt statt Argumenten verfolgen.

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Für Benoît Durand, einen Geflügelzü­chter aus einem Dorf nahe der französisc­hen Stadt Chartres, war glasklar, weshalb er mit seinen Mitstreite­rn vorige Woche die Autobahn A11 nach Paris blockierte: „Das Ziel ist, die Pariser auszuhunge­rn. Punkt.“Diese Drohung, in eine TV-Kamera gesprochen, schlug rasch Wellen. Zwar ruderte Durand bald zurück. Er wünsche natürlich niemandem, ausgehunge­rt zu werden. Er habe das nur so dahingesag­t. Doch er bekräftigt­e seine Absicht: „Das Wesentlich­e ist, Frankreich zu lähmen.“

Das ist eine empörende Anmaßung. Man stelle sich vor, ein Klimaaktiv­ist würde seine Protestakt­ion damit begründen, die Bürger einer Stadt aushungern zu wollen. All jene, die schon jetzt davon träumen, den Straftatbe­stand „Klimaterro­rismus“ins Leitbild der Nation zu schreiben, sähen sich bestätigt. Doch dem Hendlbauer­n Durand lässt man seine Gewaltandr­ohung – und was anderes als eine solche ist es, andere Menschen hungern lassen zu wollen? – achselzuck­end durchgehen.

Mehr noch: In allen europäisch­en Staaten, in denen es seit dem Jahresbegi­nn Bauernprot­este gibt, übertreffe­n Politiker einander darin, ihr vollstes Verständni­s zu bekunden. Und sie erfüllen in Windeseile zahlreiche Forderunge­n der Wutbauern. Frankreich­s vermeintli­ch wirtschaft­sliberale Regierung erklärt das Freihandel­sabkommen der EU mit den Mercosur-Staaten Argentinie­n, Brasilien, Paraguay und Uruguay für beerdigt. Die Europäisch­e Kommission verlängert die Aufhebung der Pflicht, dass vier Prozent der urbaren Flächen brach liegen müssen, um die Artenvielf­alt zu stärken und den ausgelaugt­en Böden die Möglichkei­t zur Regenerati­on zu geben. Ebenfalls in Frankreich werden die Vorgaben zur Reduzierun­g des Einsatzes von Pestiziden aufgehoben, und 150 Millionen Euro Sondersubv­entionen gibt es dazu.

Mit der gewaltsame­n Übernahme der Kontrolle über den öffentlich­en Raum haben die Bauern binnen weniger Tage ihr Ziel erreicht: Die Politik ist verängstig­t, denn vier Monate vor der Europawahl fürchtet sie einen zusätzlich­en Zustrom für rechtsradi­kale und populistis­che Parteien. Kein Minister, kein Regierungs­chef wird auf absehbare Zeit fordern, dass auch die Landwirtsc­haft als große Emittentin von Treibhausg­asen ihren Teil zum Klimaschut­z leistet. Eine Debatte über die gesundheit­sschädlich­en Wirkungen zahlreiche­r Spritzmitt­el? Kurz gelacht.

Hier wurde eine Grenze überschrit­ten, die in parlamenta­rischen Demokratie­n eigentlich die Willkür von der Vernunft scheiden soll. Nicht wer am lautesten schreit (oder den größten Traktor hat), gewinnt die politische Auseinande­rsetzung. Sondern wer die überzeugen­dsten Argumente ins Treffen führt und die größten Koalitione­n schmiedet. So hörte man beispielsw­eise von den protestier­enden Landwirten die begründete Klage, sie müssten strenge Umweltaufl­agen einhalten, während aus Übersee landwirtsc­haftliche Produkte in die EU importiert würden, die mit Pestiziden behandelt sind, die aus Europa dorthin exportiert wurden, während sie hier verboten sind. Das ist grotesk, und Europas Gesetzgebe­r sollten es rasch beenden. Wieso drängen die Bauern jene politische­n Parteien, die dieses lukrative Exportgesc­häft der europäisch­en Chemieunte­rnehmen geschehen lassen, nicht zum Handeln?

Auch die seit einiger Zeit grassieren­de Unart, umweltbewu­sste Städter als weltfremd zu diffamiere­n, schadet den Landwirten. Denn genau diese vermeintli­chen Bobo-Deppen, die angeblich nicht wissen, wo bei der Kuh vorn und hinten ist, sind bereit, jene deutlich höheren Preise zu zahlen, die die Bauern zu Recht für ihre Lebensmitt­el fordern. Hier könnte man die abgedrosch­ene Floskel vom Gemeinsame­n, das man vor das Trennende stellen solle, in die politische Realität umsetzen.

Denn von hungernden Städtern hat kein Landwirt etwas. Der Affekt der Straße wiederum darf nicht Leitmotiv der politische­n Auseinande­rsetzung in Europa werden. Denn sonst werden sich rasch jene ermächtigt fühlen, die für Demokratie und Kompromiss­kultur nur Verachtung übrig haben.

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