Europas Firmenexodus in die USA wird zur Flut
Der einzige Markt, der den Investoren heute wirklich wichtig sei, sind die USA. Die geplante Abspaltung des US-Geschäfts von Holcim lässt erkennen, vor welchen Fragen europäische Unternehmen heute stehen.
Die 44-Milliarden-Dollar-Fusion zwischen der französischen Lafarge und ihrem Schweizer Rivalen Holcim im Jahr 2015 markierte den Höhepunkt des europäischen Unternehmensglanzes, der Globalisierung und des Optimismus in Bezug auf die Schwellenländer.
Die Ankündigung von Holcim in der Vorwoche, sich in zwei geografisch getrennte Unternehmen aufzuspalten, unterstreicht jedoch die harte Realität des Zeitalters der Deglobalisierung: Der einzige Markt, der den Investoren heute wirklich wichtig ist, sind die USA. Doch warum ist dem so?
Die europäischen Börsen sollten sich Sorgen machen, denn Widerstand gegen die Hegemonie der US-Kapitalmärkte scheint zwecklos. Der Plan von Holcim sieht vor, seine nordamerikanischen Aktivitäten im nächsten Jahr abzuspalten und ein separates, in den USA börsenotiertes Unternehmen mit einem Umsatz von elf Milliarden Dollar und einem Betriebsgewinn von rund zwei Milliarden Dollar zu gründen. Die Initiative von Präsident Joe Biden, die USA zu reindustrialisieren und die Infrastruktur des Landes wieder herzustellen, trägt dazu bei, dass die Zementund Zuschlagstoffunternehmen hohe Gewinnmargen erzielen.
Bewertungslücke zu Europa
Dennoch werden in den USA börsennotierte Baustoffunternehmen wie Martin Marietta Materials und Vulcan Materials zu deutlich höheren Kurs-Gewinn-Verhältnissen gehandelt als Unternehmen mit Sitz im Ausland. Und dies, obwohl europäische Unternehmen wie CRH, Holcim und Heidelberg Materials eine starke Präsenz in Nordamerika haben.
Die Bewertungslücke lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen, darunter unterschiedliche Wachstumsraten, eine stärkere Beteiligung von Privatanlegern an den Aktienmärkten und die Dominanz der US-Indizes. Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass US-Investoren bereit sind, auch für solche Unternehmen mehr zu zahlen, die sich mit eher profanen Tätigkeiten wie der Herstellung von Zement befassen.
Holcim ist allerdings nicht allein. Die in Dublin ansässige CRH verlegte im September ihre Erstnotiz von London nach New York, was zu einer Neubewertung der Aktien beitrug. Der britische Sanitär- und Heizungskonzern Ferguson profitierte in ähnlicher Weise von der Verlegung seiner Hauptnotierung in die USA im Jahr 2022. Und der Landmaschinenkonzern CNH Industrial erhofft sich durch den Wechsel von Mailand an die Wall Street einen ähnlichen Effekt.
Fusionen und Übernahmen bieten jedoch auch einen Weg zu einer besseren Bewertung: Der ursprünglich deutsche Industriegasekonzern Linde fusionierte 2018 mit dem US-Rivalen Praxair und wurde im vergangenen Jahr von der Frankfurter Börse genommen; der Verpackungshersteller Smurfit Kappa Group verlagerte seine Hauptnotierung nach der Fusion mit Westrock in die USA. Der Plan von Holcim, sein US-Geschäft abzuspalten, ist ein dritter Ansatz und in mancher Hinsicht eine sauberere Lösung als die bloße Änderung der Erstnotiz. Wenn es gelingt, eine Anhängerschaft unter den institutionellen US-Anlegern aufzubauen, gibt es keinen Grund, warum die Bewertung der US-Sparte von Holcim nicht näher an die lokalen Konkurrenten herankommen sollte. Das Management hofft, dass das neue Unternehmen in den S&P 500 aufgenommen wird. Für Holcim macht die Abspaltung auch durchaus Sinn: Rund 40 Prozent des Umsatzes entfallen auf Nordamerika.
Die Pläne von Holcim dürften in den europäischen Vorstandsetagen sehr genau geprüft werden. Denn die transatlantische Bewertungslücke ist ein Hindernis für Europas Konzerne. Und sie ist Treibstoff für aktivistische Investoren, die fordern, dass Unternehmen über eine Börsennotierung in den USA nachdenken sollten, um mehr Wert für ihre Aktionäre zu schaffen. Aus dem Rinnsal europäischer Unternehmen, die eine Notierung in den USA anstreben, droht eine Flut zu werden. (Bloomberg)