„Streaming ist der Tod für Kinofilme“
In Hollywood zählt der zweifache Oscar-Gewinner Alexander Payne zu den bedeutendsten Autorenfilmern. Warum künstlerische Freiheit eher existiert, wenn das Budget niedrig ist, und der Verkauf von Merlot seinetwegen fiel.
Paynes aktueller Film, „The Holdovers“, ist fünfmal für den Oscar nominiert. „Die Presse“traf den erfolgreichen US-Regisseur und -Drehbuchautor im Rahmen des Marrakech Film Festivals.
Die Presse: Im Mittelpunkt von „The Holdovers“steht ein unbeliebter Professor. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Lehrer?
Alexander Payne: Mein erster Lateinprofessor war streng und verhasst. Er war bereit, sich unbeliebt zu machen, um uns akademische Disziplin einzutrichtern, die auf Furcht basierte. Außerhalb der Schule entpuppte er sich als der netteste Mensch der Welt.
Im Film kommt folgende Aussage vor: Wenn man Geschichte nicht kennt, wird sich Geschichte wiederholen. Wie ist Ihr Verhältnis zu Geschichte?
Ich habe Geschichte studiert und lese am liebsten Geschichtsbücher.
Welches Buch lesen Sie aktuell?
Von Patrick Leigh Fermor ein Buch über Griechenland und von Rebecca West „Black Lamb and Grey Falcon“(Ersterscheinung 1941, Anm.).
ÜBER GELD SPRICHT MAN
diepresse.com/meingeld
Letzteres habe ich vor zwanzig Jahren gelesen, bis heute das beste Werk über den Balkan und das ehemalige Jugoslawien.
Wie schwierig ist es, eine melancholische Komödie wie „The Holdovers“zu machen?
Filmemachen ist immer schon schwierig gewesen. Für alle.
Mit Ihnen und Paul Giamatti an Bord würde man annehmen, es ist einfach.
In den Augen der Studios hatte „The Holdovers“keinen Filmstar, daher gestaltete sich die Finanzierung schwierig. Dafür bekam ich nach der Premiere von „The Holdovers“zu hören: „Was für ein wunderbarer Film. Ich wünschte, wir hätten ihn gemacht!“Worauf ich bloß antworten konnte: „Sie hatten die Chance.“Was meine Karriere betrifft, ist Filmemachen eine Frage von etwas schwieriger oder weniger schwierig, abhängig vom einzelnen Projekt und dem allgemeinen Klima. Als ich beispielsweise vor zehn Jahren beabsichtigte, einen Schwarz-Weiß Film zu drehen, lehnten Studios die Finanzierung ab.
Sie sprechen von „Nebraska“. Korrekt.
Kaum zu glauben, denn Sie hat
ten davor Ihren zweiten Oscar gewonnen.
Sie staunen, aber selbst nach meinem zweiten Oscar war die Finanzierung von „Nebraska“ein Spießrutenlauf. Wie erwähnt, beharrte ich auf der Schwarz-Weiß-Verfilmung des Dramas. Das Studio wollte nur Finanzmittel gewähren, wenn ich in Farbe drehe. „Na gut, dann eben nicht.“Und ich ließ sie wissen: „Ich kann auf euren Nachfolger warten.“Damals besaß das Filmstudio Paramount die Rechte des Drehbuchs. Schließlich gelang es mir, das Budget zu reduzieren, und ich erhielt 13 Millionen Dollar. Für europäischen Standard viel Geld, für Hollywood jedoch wenig.
Für Ihren letzten Film, „Downsizing“, stand Ihnen ein umfangreiches Budget zur Verfügung.
Richtig, aber der Film floppte, war ein kommerzieller Misserfolg. Die Produktionskosten waren deutlich höher als das Einspielergebnis. (Produktionskosten: 68 Mio. Dollar, weltweites Einspielergebnis: 55 Mio. Dollar, Anm.).
Vielleicht wurde die Botschaft des Films missverstanden.
Wer weiß, vielleicht werde ich in 600 Jahren als Gott verehrt, weil die Menschen geschrumpft sind. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich beschwere mich keineswegs, sonAlexander dern beantworte Ihre Fragen. Es gibt immer Gründe, warum Filmemachen verzögert oder erschwert wird. Ich habe auch bisher immer Finanzierungsmöglichkeiten gefunden und bin dankbar, Geschichten verfilmen zu können, von denen ich überzeugt bin.
Wie lautet Ihr Credo?
Ich komme aus dem Drama-Klub, nicht aus dem Business-Klub. Alles, was ich kann, ist Geschichten schreiben. Geschichten, die ich selbst gern ansehen möchte. Mein Credo ist: die Rollen mit den richtigen Schauspielern und Schauspielerinnen besetzen und das Budget inklusive meines eigenen Gehalts so niedrig wie möglich halten. Einzige Ausnahme ist der vorhin erwähnte Film „Downsizing“.
Was spricht gegen ein hohes Budget?
Dass man aus Gefälligkeit oder Höflichkeit Änderungen vornehmen muss. Oder man selbst Geld verdienen möchte und sich daher sagt: „Wenn ich das ändere, dann …“Schlimme Gedanken können da von einem Besitz ergreifen.
Was ist Ihnen als Filmemacher besonders wichtig?
Freiheit. Freiheit als Filmemacher. Diese Freiheit existiert, wenn das Budget gering ist. Da ist kein Interesse involviert, ergo hat man freie Hand beim Filmemachen.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung, wenn sich Filmstudios wie Disney immer mehr auf die Produktion von Blockbustern fokussieren?
Der Fokus der Finanzierung liegt bei Blockbustern. Filmstudios vergeuden keine Zeit mit klein budgetierten Filmen. Davon profitieren die Streaming-Anbieter, die auf diese Weise an Projekte herankommen, die bei den Studios durchfallen. Für Filme hat das allerdings einen Preis. Denn ein vom Streaming-Anbieter finanzierter Spielfilm läuft in der Regel nur sehr kurze Zeit im Kino. Danach wird der Film auf die Plattform gestellt.
Streaming ist der Tod für Kinofilme.
Wie meinen Sie das?
Nehmen wir Pablo Larrains aktuellen Film „El Conde“her. Netflix stellte Larrain ein unglaubliches Budget zur Verfügung, und Larrain konnte einen wunderbaren Film machen. Einen Film, der es meiner Meinung nach verdient, im Kino gesehen zu werden. Dort aber sah ihn niemand. Weil „El Conde“eben nach sehr kurzer Zeit aus dem Kinoprogramm entfernt wurde. Die einzige Möglichkeit, den Film zu sehen, ist zu streamen. „El Conde“ist für mich eines jener Beispiele, die Teil der Debatte über KinoStreaming sein sollten. Denn er gehört zu jenen aktuell sehenswerten Filmen, die bereits in Vergessenheit geraten sind. Weil er eben nur mehr gestreamt wird, und da sind wir bei einem weiteren Punkt der Konversation. Streamen ist nicht Channel-Surfen. Das bedeutet, man entdeckt nicht einen Film beim Channel-Surfen, sondern der Zuschauer muss konkret auswählen und klicken. Also ein paar Schritte mehr aufwenden, um den gewünschten Film oder die Serie anzusehen. Trotz der eben erwähnten Argumente ist es gut, dass Streaming existiert.
Wie bereitet man sich für die Award-Saison vor?
Meine einzige Vorbereitung besteht darin, meine Hosen zum Schneider zu bringen und den Bund herauslassen. Damit ich wieder in meine Anzüge passe. Als Alternative
gäbe es die Diät, aber die finde ich schwieriger.
Wie gehen Sie mit der Anerkennung für „The Holdovers“um?
Ich freue mich für Da’Vine Joy Randolph, Paul Giamatti und Drehbuchautor David Hemingson.
Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit Paul Giamatti nach fast zwei Jahrzehnten beschreiben?
Es ist, als würde man mit seinem besten Freund arbeiten. Jahre können ohne Wiedersehen vergehen. Aber in dem Augenblick, in dem man sich wiedersieht, ist es, als hätte man sich gestern zum letzten Mal getroffen. Als wäre keine Zeit verstrichen. Wir brauchen keine langen Besprechungen und wissen beide, wann eine Situation witzig ist, traurig oder emotional.
Was zeichnet ihn als Schauspieler aus?
In meinen Augen ist Paul Giamatti immer Filmstar gewesen. Auf seine Weise ist er einmalig, weil bei ihm alles so einfach aussieht, dabei sind seine Emotionen echt. In „The Holdovers“hat Paul Giamatti zwei Schlüsselszenen. Die erste, als er bei seiner Verteidigung beschließt, das Opfer vor den Eltern zu bringen. Die zweite ist die Abschiedsszene von seinem Schüler. Bei den Dreharbeiten sind ihm die Szenen so an die Nieren gegangen, dass er geweint hat. Bei mir riefen seine Darbietungen Erinnerungen an „Sideways“hervor. Insbesondere jene Szene, als er auf dem Parkplatz seine Ex-Frau trifft und ihr seine Liebe beteuert, worauf sie entgegnet, dass sie ein Baby von einem anderen Mann erwartet. Die Szene geht unter die Haut.
„Sideways“feiert sein 20-Jahr-Jubiläum, und seit damals boomt die Weingegend an der kalifornischen Central Coast. Wenn Sie in die Gegend fahren, werden Sie erkannt?
Es verhält sich vielmehr so, dass ich die Gegend nicht mehr wiedererkenne. Seit damals sind Restaurants, Hotels und Winzer wie Schwammerln aus dem Boden geschossen. Die haben Unmengen Geld daran verdient, mehr, als ich jemals verdient habe. Das Restaurant Hitching Post ist eine Touristenattraktion und hat Millionen Dollar durch den Film verdient.
Bekommen Sie wenigstens Wein von Hitching Post?
Nach Hause geschickt wird er mir nicht, da muss ich schon selbst hinfahren und zum Abendessen einkehren. Ist Frank, der Besitzer, vor Ort, begleitet er mich hinterher mit einer Kiste Wein auf den Schultern zum Auto und lädt sie in den Kofferraum.
In „Sideways“droht der Weinliebhaber Miles Raymond (dargestellt von Paul Giamatti), das Lokal zu verlassen, falls jemand Merlot bestellt. Der Scherz hat dem Wein schlechte Reputation beschert und die Preise in den Keller geschickt. Fühlen Sie sich verantwortlich?
Es ist ein filmischer Scherz. Wer hätte je gedacht, dass deswegen der Verkauf von Merlot zurückgeht?!
Haben Sie jemals eine Rechnung für den Verlustentgang erhalten? Nein.
Warum mögen Sie eigentlich keinen Merlot?
Ich liebe Merlot, und bei der Jubiläumsfeier werden wir ausschließlich Merlot ausschenken.