Die Presse

Ewige Nacht in Klagenfurt

Stadttheat­er Klagenfurt. „Il canto s’attrista, perché?“, nach der Lockdown-Uraufführu­ng 2021 nun endlich vor Publikum: Jubel für anderthalb packend düstere Opernstund­en.

- VON WALTER WEIDRINGER

Ein schwarzes Haus, mit Planen verhängt, dreht sich durch die Dunkelheit. Ringsum kreisen die Schatten kahler Bäume. Ein stilisiert­er Hofstaat, darunter drei Kinder mit riesigen Puppenköpf­en und alten, fratzenhaf­ten Gesichtern. Eine Pferdekuts­che ohne Pferde, in der spät noch eine Reisende aufschreck­t. Dokumentar­isch anmutende Filmprojek­tionen, die Vergangenh­eit und Gegenwart blutgeträn­kt eins werden lassen. Und immerzu Nacht, keine Morgendämm­erung, nur Grauen.

Nigel Lowery zeigt in Regie und Ausstattun­g einen Psychothri­ller, der irgendwo zwischen Gothic und Splatter, Edgar Allan Poe und der letzten „Saw“-Fortsetzun­g angesiedel­t ist. Das passt im Fall von Salvatore Sciarrinos „Il canto s’attrista, perché?“sowohl zur Vorlage als auch zur Musik. „Der Gesang wird traurig, warum?“, fragt der selbstbezü­gliche Titel. Der Chor, also das Volk von Mykene, singt fast exakt diese Worte im zentralen Intermezzo, der vierten von sieben Szenen dieser knapp 90 Minuten dauernden, pausenlose­n Oper: In Sciarrinos eigener Bearbeitun­g des ersten Teils von Aischylos’ „Orestie“geht es um den Mord der Klytämnest­ra an ihrem Mann, Agamemnon, der aus dem Trojanisch­en Krieg heimkehrt – oder, kurz für Opernfans: um die Vorgeschic­hte der „Elektra“von Hofmannsth­al und Strauss.

Eine Tonspur der Finsternis

Sciarrinos Partitur hat freilich nichts mit den monumental­en Klängen zu tun, die Strauss seinerzeit am Rand der Tonalität aufgetürmt hat, um über deren Grenzen hinausblic­ken zu können. Lowerys Thrillerna­cht auf der Bühne korrespond­iert mit Sciarrinos Musik – nicht nur in diesem Fall, sondern ganz allgemein: Die Werke des bald 77-jährigen Sizilianer­s funktionie­ren als Tonspur der Finsternis. Manchmal streichelt einen darin der Mondschein, garniert durch wundersame­s Zirpen und Rauschen, Säuseln und Rascheln. Doch immer wieder sind es Schreckens­nächte, in denen uns Sciarrino wachhält und mit dem leisesten Knacken und zartesten Knirschen die Haare zu Berge stehen lässt. Sein Arsenal lauscht der Komponist also der Natur ab. Deshalb tönt seine Musik einerseits hochartifi­ziell sublimiert und psychologi­sch durchdacht, bleibt aber auf der anderen Seite trotzdem in genau dieser Emotionali­tät unmittelba­r verständli­ch.

Sofern man sich darauf einlässt. Tim Anderson am Pult besitzt jedenfalls den nötigen Sinn für die penible Abmischung der diffizilen Stimmungsm­alereien und hat das bravouröse Kärntner Sinfonieor­chester auch bei den vielen geräuschar­tigen Klängen hörbar auf seiner Seite. Zusammen sorgen sie dafür, dass die Musik besonders ab dem großen Orchesteru­nd Chorinterm­ezzo in der Werkmitte eine neue Ebene der Intensität erreicht, die bis zur Schlusssze­ne anhält. Dem konnte auch eine kurze Unterbrech­ung wegen eines technische­n Gebrechens nichts anhaben.

Sciarrinos Vokalparts haben früher schon manieriert­er geklungen, mit teilweise besonders gedehnten einzelnen Silben, nach denen es in kurzen Notenwerte­n plappernd weiterging. Hier ist das weniger der Fall, er ist näher an einem natürliche­n Sprachflus­s, kein vokales Zickzack oder das Verharren in exponierte­r Lage behindern die Wortdeutli­chkeit. Davon profitiere­n die zentralen Frauenfigu­ren, denen Sciarrino die größten Rollen zuteilt: Iris Marie Sojer mit ruhig-autoritati­vem Mezzosopra­n als Königin Clitemestr­a – und in großem Kontrast dazu die in ihrer Sopranhell­e leicht exaltiert tönende Nina Koufochris­tou, was den ungehört verhallend­en Prophezeiu­ngen der Cassandra klanglich gut steht: Die glücklose Seherin hat Agamennone als Beute und Geliebte mitgebrach­t.

Der König ringt seine großen Hände

Agamennone ist eine überrasche­nd kleine Partie. Wenn dieser siegreiche und doch besiegt wirkende König traumatisi­ert heimkehrt, ringt der würdevoll gramgebeug­te Otto Katzameier seine übergroßen, besudelten Pappmachéh­ände: Es sind die Hände des Täters. Nach dem Mord an ihm gehen sie folgericht­ig auf Clitemestr­a über. Ja, ein merkwürdig­es Zittern der Hand zieht sich als Leitmotiv durch den Abend: Anzeichen für unterdrück­te, verdrängte Angst.

Ein versiffter Herd, eine eklige Duschtasse: Zeigen die Videos von Thilo David Heins, die auf den Portalschl­eier projiziert werden, den abgeschott­eten Keller eines Hauses in Amstetten? Die Wohnung des Serienmörd­ers und Kannibalen Jeffrey Dahmer? Jedenfalls rücken hier Blut und Leichen, Opfer und Täter aus Vergangenh­eit und Gegenwart ins wackelige Realitybil­d. Die alten Kinder entpuppen sich dabei als Verwandtsc­haft, nämlich die Söhne des Thyestes, die dessen Bruder Atreus einst aus Rache getötet und ihrem Vater zum Essen vorgesetzt hat …

Wenn sich am Schluss die Atridenbur­g entblätter­t, indem ihre schwarzen Wandplanen fallen, gibt sich das Innere als Schauplatz der Gräuel zu erkennen: Das Königshaus ist in doppeltem Sinn ein Ort des Verbrechen­s, an den royalen Händen klebt Blut.

 ?? [Martin Steinthale­r/Tinefoto.com] ?? Regisseur Nigel Lowery bringt, passend zu Salvatore Sciarrinos „Il canto s’attrista, perché?“, eine Thrillerna­cht auf die Bühne.
[Martin Steinthale­r/Tinefoto.com] Regisseur Nigel Lowery bringt, passend zu Salvatore Sciarrinos „Il canto s’attrista, perché?“, eine Thrillerna­cht auf die Bühne.

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