Ewige Nacht in Klagenfurt
Stadttheater Klagenfurt. „Il canto s’attrista, perché?“, nach der Lockdown-Uraufführung 2021 nun endlich vor Publikum: Jubel für anderthalb packend düstere Opernstunden.
Ein schwarzes Haus, mit Planen verhängt, dreht sich durch die Dunkelheit. Ringsum kreisen die Schatten kahler Bäume. Ein stilisierter Hofstaat, darunter drei Kinder mit riesigen Puppenköpfen und alten, fratzenhaften Gesichtern. Eine Pferdekutsche ohne Pferde, in der spät noch eine Reisende aufschreckt. Dokumentarisch anmutende Filmprojektionen, die Vergangenheit und Gegenwart blutgetränkt eins werden lassen. Und immerzu Nacht, keine Morgendämmerung, nur Grauen.
Nigel Lowery zeigt in Regie und Ausstattung einen Psychothriller, der irgendwo zwischen Gothic und Splatter, Edgar Allan Poe und der letzten „Saw“-Fortsetzung angesiedelt ist. Das passt im Fall von Salvatore Sciarrinos „Il canto s’attrista, perché?“sowohl zur Vorlage als auch zur Musik. „Der Gesang wird traurig, warum?“, fragt der selbstbezügliche Titel. Der Chor, also das Volk von Mykene, singt fast exakt diese Worte im zentralen Intermezzo, der vierten von sieben Szenen dieser knapp 90 Minuten dauernden, pausenlosen Oper: In Sciarrinos eigener Bearbeitung des ersten Teils von Aischylos’ „Orestie“geht es um den Mord der Klytämnestra an ihrem Mann, Agamemnon, der aus dem Trojanischen Krieg heimkehrt – oder, kurz für Opernfans: um die Vorgeschichte der „Elektra“von Hofmannsthal und Strauss.
Eine Tonspur der Finsternis
Sciarrinos Partitur hat freilich nichts mit den monumentalen Klängen zu tun, die Strauss seinerzeit am Rand der Tonalität aufgetürmt hat, um über deren Grenzen hinausblicken zu können. Lowerys Thrillernacht auf der Bühne korrespondiert mit Sciarrinos Musik – nicht nur in diesem Fall, sondern ganz allgemein: Die Werke des bald 77-jährigen Sizilianers funktionieren als Tonspur der Finsternis. Manchmal streichelt einen darin der Mondschein, garniert durch wundersames Zirpen und Rauschen, Säuseln und Rascheln. Doch immer wieder sind es Schreckensnächte, in denen uns Sciarrino wachhält und mit dem leisesten Knacken und zartesten Knirschen die Haare zu Berge stehen lässt. Sein Arsenal lauscht der Komponist also der Natur ab. Deshalb tönt seine Musik einerseits hochartifiziell sublimiert und psychologisch durchdacht, bleibt aber auf der anderen Seite trotzdem in genau dieser Emotionalität unmittelbar verständlich.
Sofern man sich darauf einlässt. Tim Anderson am Pult besitzt jedenfalls den nötigen Sinn für die penible Abmischung der diffizilen Stimmungsmalereien und hat das bravouröse Kärntner Sinfonieorchester auch bei den vielen geräuschartigen Klängen hörbar auf seiner Seite. Zusammen sorgen sie dafür, dass die Musik besonders ab dem großen Orchesterund Chorintermezzo in der Werkmitte eine neue Ebene der Intensität erreicht, die bis zur Schlussszene anhält. Dem konnte auch eine kurze Unterbrechung wegen eines technischen Gebrechens nichts anhaben.
Sciarrinos Vokalparts haben früher schon manierierter geklungen, mit teilweise besonders gedehnten einzelnen Silben, nach denen es in kurzen Notenwerten plappernd weiterging. Hier ist das weniger der Fall, er ist näher an einem natürlichen Sprachfluss, kein vokales Zickzack oder das Verharren in exponierter Lage behindern die Wortdeutlichkeit. Davon profitieren die zentralen Frauenfiguren, denen Sciarrino die größten Rollen zuteilt: Iris Marie Sojer mit ruhig-autoritativem Mezzosopran als Königin Clitemestra – und in großem Kontrast dazu die in ihrer Sopranhelle leicht exaltiert tönende Nina Koufochristou, was den ungehört verhallenden Prophezeiungen der Cassandra klanglich gut steht: Die glücklose Seherin hat Agamennone als Beute und Geliebte mitgebracht.
Der König ringt seine großen Hände
Agamennone ist eine überraschend kleine Partie. Wenn dieser siegreiche und doch besiegt wirkende König traumatisiert heimkehrt, ringt der würdevoll gramgebeugte Otto Katzameier seine übergroßen, besudelten Pappmachéhände: Es sind die Hände des Täters. Nach dem Mord an ihm gehen sie folgerichtig auf Clitemestra über. Ja, ein merkwürdiges Zittern der Hand zieht sich als Leitmotiv durch den Abend: Anzeichen für unterdrückte, verdrängte Angst.
Ein versiffter Herd, eine eklige Duschtasse: Zeigen die Videos von Thilo David Heins, die auf den Portalschleier projiziert werden, den abgeschotteten Keller eines Hauses in Amstetten? Die Wohnung des Serienmörders und Kannibalen Jeffrey Dahmer? Jedenfalls rücken hier Blut und Leichen, Opfer und Täter aus Vergangenheit und Gegenwart ins wackelige Realitybild. Die alten Kinder entpuppen sich dabei als Verwandtschaft, nämlich die Söhne des Thyestes, die dessen Bruder Atreus einst aus Rache getötet und ihrem Vater zum Essen vorgesetzt hat …
Wenn sich am Schluss die Atridenburg entblättert, indem ihre schwarzen Wandplanen fallen, gibt sich das Innere als Schauplatz der Gräuel zu erkennen: Das Königshaus ist in doppeltem Sinn ein Ort des Verbrechens, an den royalen Händen klebt Blut.